Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
keinen Poststapel? Sie und Laverne folgten Kimberly gehorsam, während sie über ihre bevorstehende Reise nach London plauderte und erzählte, wie das Ferienlager am Abend angerufen und ihr mitgeteilt hatte, dassTroy Fieber bekommen habe. »Nur 37,8, was nicht sonderlich hoch klingt, oder? Sie sagten, sie wollten mich einfach nur informieren, und mir war das recht, wenn ich es auch ein bisschen überflüssig fand. Als nächstes rufen sie dann plötzlich an und teilen mir mit, seine Temperatur sei jetzt bei 38,1 und ich müsse kommen und ihn abholen. Alles, was über 38 Grad ist, sagte die Leiterin, so sind ihre Regeln. Eine grauenhafte Frau. Vollkommen bescheuert. Es war, als rede man mit einer Dreijährigen. Sie hat einfach immer nur wiederholt, so seien eben ihre Regeln. Alles über 38 Grad.« Kimberly setzte die Zahl mit den Fingern in Gänsefüßchen. »Exakt 38 Grad. Wenn das nicht die reine Willkür ist. Und das war um zehn Uhr abends, stellen Sie sich das mal vor! Ich habe darauf bestanden, mit Troy selbst zu reden, und er klang ganz munter. Ich habe ihnen erklärt, dass ich verreise, aber das war ihnen gleichgültig.« Sie seufzte tief und führte sie in einen Traum von Küche: glänzende Arbeitsplatten aus Granit, massenhaft Schrankraum und alle Geräte doppelt – zwei Backöfen, zwei Herdplattenfelder, zwei Geschirrspülmaschinen und ein Kühlschrank in Sondergröße. In der angrenzenden Frühstücksecke stand ein Tisch mit sechs Stühlen und darauf prangte eine Glasvase mit hohen, weißen Calla-Lilien. Hinter einem Durchgang auf der anderen Seite sah man einen leinengedeckten Tisch mit purpurroten Kerzen.
»Hübsche Küche«, meinte Laverne. Die Untertreibung des Jahres.
»Danke.« Kimberly beugte sich über die Küchentheke und inspizierte die Kaffeemaschine. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und dann hat Troy immer wieder nach Ihnen gefragt ...« Sie nahm die Schalter genauer in Augenschein. »MeineHaushälterin hat den Timer eingestellt, aber es muss eine Möglichkeit geben, den auszutricksen.«
»Hier«, meinte Marnie, beugte sich vor und drückte eine Taste. Ein Licht ging an und das Gerät gab ein leises Zischen von sich.
Kimberly fuhr zurück und sah sie bewundernd an. »Nicht schlecht, Marnie.« Sie tätschelte ihr anerkennend den Arm. »Das war brillant. Einfach brillant.« Sie forderte sie mit einer Handbewegung zum Sitzen auf, ging dann zu einem Schrank und nahm drei Kaffeebecher heraus. »Ich habe die Leiterin des Ferienlagers zurückgerufen. Sie heißt Helga. Der Name sagt doch schon alles. Sie geben ihm nicht einmal Paracetamol oder Aspirin. Das ist gegen ihre Regeln.« Sie zog voll Abscheu die Nase kraus. »Ich sagte, dass ich ihn nicht abholen kann, aber seine Tante Marnie werde am Vormittag kommen und ihn holen. Daraufhin hat sie mir erst einmal erklärt, dass sie ihn niemandem außer mir mitgeben wird. Sie wollte darauf bestehen, dass ich sofort selbst komme, aber als ich meinen Anwalt erwähnte, hat sie ihre Meinung geändert und gesagt, dass es in Ordnung wäre. Vorausgesetzt, dass du innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden kommen würdest und eine Verwandte bist.« Sie stemmte die Ellbogen auf den Tisch und klopfte sich mit dem Finger ans Kinn. »Deswegen habe ich gesagt, Sie seien seine Tante. Väterlicherseits. Wir müssen unsere Geschichten gut abstimmen.« Sie blickte wieder zur Küchentheke. »Kaum zu glauben, dass es so lange dauert, eine Kanne Kaffee zu kochen. Glauben Sie, dass mit der Maschine irgendwas nicht stimmt?«
Sie schauten sich alle nach der Kaffeemaschine um, wo die dunkle Flüssigkeit stetig in die Glaskanne rieselte. »Nö, fürmich sieht es so aus, als würde sie funktionieren«, meinte Laverne. »Man muss einfach Geduld haben.«
»Geduld liegt mir nicht.« Kimberly trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum. »Es fällt mir leichter, etwas zu tun, als abzuwarten. Das haben Sie bestimmt schon gehört.« Sie blickte Marnie fragend an, doch die wusste nicht, was sie sagen sollte. »Brian hat Ihnen doch sicher erzählt, wie ich als Ehefrau und Mutter versagt habe.« Die Luft im Raum war irgendwie dicker geworden. Kimberly hörte auf, mit den Fingern zu trommeln. »Bestimmt haben Sie die Geschichte gehört, wie ich meinen Sohn im Stich gelassen habe und ohne jede Vorwarnung zum anderen Ende des Landes gezogen bin, aber das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ja, ich bin weggezogen und ich habe mich auch nicht so viel um Troy gekümmert,
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