Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
schlug sie auf Kopf und Schultern, ließ die Schläge von oben niederprasseln.
Sie duckte sich und schrie vor Schmerz auf. Sie versuchte, seinen Hieben zu entkommen, steckte aber in der engen Sitzreihe und ihrem Sicherheitsgurt in der Falle. Er hämmerte ihr die Faust so heftig gegen den Kopf, dass sie spürte, wie ihr Gehirn gegen den Schädel krachte; ganze Sternbilder leuchteten vor ihren Augen auf. Bevor sie wieder zu sich kam, hatte er ihr die Hände um den Hals gelegt, und sie spürte unerträglichen Schmerz, als ihre Luftröhre zugedrückt wurde. Marnie konnte nicht atmen.
Troy sprang auf und schrie: »Hören Sie auf! Lassen Sie sie los!« Gleichzeitig versuchte er verzweifelt, Davis’ Hände von Marnies Hals zu reißen.
Der junge Flugbegleiter kam angerannt und von den hinteren Sitzen stürmten zwei junge Männer in Wisconsin-Badgers-T-Shirts zur Hilfe. Wie Marnie später erfuhr, waren drei Männer nötig, um Davis von ihr fortzureißen.
51
Sie waren ein paar Stunden im Krankenhaus von Milwaukee, wo Marnie untersucht wurde und sie die Fragen der Polizei beantworteten. Davis war gleich nach der Landung des Flugzeugs verhaftet worden und mehrere Passagiere hatten ausgesagt, was geschehen war. Marnie war es ein bisschen unangenehm, dass sich so viele Leute – Troy, Jazzy und Laverne – um ihr Bett in der Notaufnahme herum drückten, während Jazzys Bruder Dylan, der alle nach Hause bringen sollte, im Wartezimmer saß. Sie bot ihnen an, sie sollten doch schon nach Hause fahren, aber als wahre Freunde wollten sie nichts davon wissen. Sie blieben.
Als der Notarzt, ein junger Kerl mit schmalem Gesicht und Drahtgestellbrille, sie nach der genähten Wunde an ihrer Seite fragte, konnte sie sich einen Augenblick nicht erinnern, woher sie die hatte. Der Zusammenstoß mit Max auf dem Rastplatz, der damals so traumatisch gewesen war, schien jetzt eine Ewigkeit zurückzuliegen. Zum Glück war Laverne da und sprang ein. »Ich war dabei und habe alles gesehen«, erzählte sie und stürzte sich in eine lebhafte Schilderung des Geschehens, wobei ihre Rolle als Heldin den wichtigsten Teil des Berichts einnahm.
Dunkle Fingerabdrücke zeichneten sich an Marnies Hals ab und würden Laverne zufolge noch schlimmer werden, weil es, wie sie erklärte: »Bei Quetschungen eben so ist. Wart’s ab. Morgen ist dein Hals grün und blau.«
Es war einfacher, die anderen reden zu lassen, und so sagte Marnie nicht viel. So muss es sich anfühlen, wenn man einen Schock hat, dachte sie. Sie legte die Hände an den Hals und betastete die wehen Stellen, wo Davis’ Daumen ihre Luftröhre zusammengedrückt hatten. Der Angriff war sehr schnell passiert und ebenso rasch vorüber gewesen, aber das machte den emotionalen Schock nicht weniger belastend. Sie war zutiefst erschüttert und ihre Nerven flatterten.
Aber als sie auf Troy blickte, der auf der Bettkante saß, war Marnie klar, dass sie sich zusammenreißen musste, und zwar bald. Sie würde sich daheim nicht eine Woche im Bett verkriechen können. Wenn man die Verantwortung für jemand anderen hatte, konnte man sich nicht nur um sich selbst kümmern. Außerdem hatte sie entdeckt, dass sie stärker war, als sie früher gedacht hatte. Es würde seine Zeit brauchen, aber Marnie wusste, dass sie das hier durchstehen würde.
Als der Arzt die Fallgeschichte in sein Notebook eintippte, fragte er, ob Marnie in den letzten vierundzwanzig Stunden irgendwelche Medikamente eingenommen habe. Marnie sah schuldbewusst Laverne an und beschloss, die Wahrheit zu gestehen. »Ich habe etwas genommen. Ich leide unter Flugangst und habe eine Tablette gegen die Nervosität geschluckt«, erklärte sie.
Der Arzt blickte von seinem Notebook auf. »Ich muss den Namen des Medikaments und die Dosis wissen. Haben Sie das Medikamentenfläschchen dabei?«
Laverne kramte in ihrer Tasche und holte den Plastikbeutel heraus. Marnie krümmte sich innerlich bei der Vorstellung, was der Arzt gleich über Lavernes ungenehmigte Plastiktüten-Apotheke sagen würde. »Ich habe ihr etwas von dem hier gegeben«, meinte sie und reichte ihm ein Fläschchen.
Er warf einen Blick auf das Etikett und gab es ihr zurück. »Melatonin fällt eigentlich nicht in diese Kategorie, aber ich notiere es trotzdem.«
»Moment mal«, sagte Marnie. »Das stimmt nicht. Sag ihm, was du mir wirklich gegeben hast.«
»Genau das. Melatonin«, erwiderte Laverne. »Es hilft mir, mich vor dem Einschlafen zu entspannen, und da dachte ich mir, es
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