Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
amerikanische Version wirkt manchmal verärgert, vor allem, wenn sie immer wieder ›Die Strecke wird neu berechnet‹ sagt. Als würde sie mich für einen Volltrottel halten.«
Ritas Mann Glenn hatte kaum glauben können, dass sie mit zwei Frauen, die sie gerade erst kennengelernt hatte, eine lange Autoreise machen würde, aber er freute sich auch für sie, das merkte sie. Seit Melindas Tod war sie nicht mehr sie selbst gewesen. Immer wieder hatte sie versucht, wieder der Mensch zu werden, der sie vor dem Mord gewesen war, aber auch in den besten Momenten war es eine Farce. Als spielte sie alles, was sie tat, nur vor, weil man es von ihr erwartete. Sie hatte gedacht, die Zeit würde die Wunden heilen, aber so kam es nicht. Jeder Tag war ein weiterer Tag ohne Melinda.
Sie hatte einmal einen Psychologen in einer Radiosendung sagen hören, der Tod sei nicht deshalb so schmerzhaft, weil die Hinterbliebenen ihre geliebten Verstorbenen nicht mehr sehen könnten, sondern weil sie nicht mehr mit ihnen
kommunizieren
könnten. Das kam ihr vollkommen richtig vor. Rita könnte es ertragen, Melinda nicht zu sehen und in ihrem Alltag auf sie zu verzichten, wenn sie nur irgendeinen Kontakt haben könnte, die Versicherung, dass alles in Ordnung war und dass es ihrer Tochter gut ging. Die Gewalt, durch die sie ums Leben gekommen war, verdarb Rita die Erinnerung an ihre lebenssprühende Persönlichkeit.
Diese Reise war die erste Gelegenheit, bei der Rita wenigstens ein bisschen Freude empfand. Sie wollte Marnie helfen, die Beziehung zu ihrem Stiefsohn wieder aufzunehmen. Dann konnte doch wenigstens jemand sein Kind umarmen, selbst wenn es nicht sie selbst war.
Als es Zeit zum Aufbruch gewesen war, hatte Glenn ihr geholfen, ihre Sachen zum Wagen zu tragen, und sie gefragt, ob sie ihr Handy und genug Geld dabei habe. »Ruf mich aber auch wirklich an«, sagte er. Als ob er sie darum bitten müsste.
»Ich bin in einer Woche oder so zurück«, erklärte sie und gab ihm einen Kuss. »Und ich rufe dich jeden Abend an.« Er würde nicht schlecht staunen, wenn sie ihm erzählte, dass sie im letzten Moment noch einen vierten Passagier mitgenommen hatten. Sie konnte noch immer kaum glauben, dass sie Laverne erlaubt hatte, sie zu begleiten. Die alte Dame hatte einfach so überglücklich gewirkt, die Reise mitmachen zu dürfen, dass Rita es nicht übers Herz gebracht hatte, ihr alles zu verderben.
»Sitzen alle gut?«, fragte Rita. Jazzy nickte nachdrücklich und von Laverne und Marnie auf dem Rücksitz kam ein doppeltes »Ja!«
»Ich bin so froh, dass wir nicht durch Chicago fahren müssen«, sagte Jazzy. »Die Baustellen sind um diese Jahreszeit ein Albtraum. Ich hasse diese orangefarbenen Kegel.«
»Die Fahrbahnbegrenzungen aus Beton sind noch schlimmer«, sagte Marnie. »Ich habe immer Angst, ich könnte sie mit dem Wagen streifen.«
»Wahrscheinlich ist es gut, dass keine von euch beiden fährt«, meinte Rita. Sie war stolz darauf, dass sie keinerlei Eintrag in der Verkehrssünderdatei hatte. Sie hatte nie einen Unfall gehabt und auch noch nie eine Geldbuße wegen zu schnellen Fahrens zahlen müssen. Nerven wie Drahtseile, so war sie als Fahrerin.
Als Ritas Tochter Melinda sechzehn geworden war und in Begleitung ihrer Eltern für den Führerschein üben durfte, hatte Glenn eine einzige Fahrt mit ihr gemacht. Es war für beide eine schreckliche Erfahrung gewesen. Als sie wieder nach Hause kamen, hatte Melinda geweint. »Daddy hat mich angeschrien«, hatte sie geschluchzt.
Rita hatte Glenn einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Er hatte die Arme hochgeworfen und gesagt: »Schau doch, ob du es besser kannst.« Von da an war sie diejenige gewesen, die die Übungsfahrten mit Melinda machte, und alles war gut gelaufen. Seitdem unternahmen Mutter und Tochter jeden Sommer gemeinsam einen Road Trip und wechselten sich beim Fahren ab. Glenn entschied sich im ersten Jahr dafür, zu Hause zu bleiben, und danach wurde er nicht mehr gefragt. Diese gemeinsamen Fahrten, nur zu zweit, waren ihnen irgendwieheilig. Sie unterhielten sich und lachten, unterhielten sich weiter, machten Rast, wenn es nötig war, und fuhren Umwege, wenn etwas sie interessierte. Rita merkte mit einem Stich, dass sie Melinda nicht nur als Tochter, sondern auch als Freundin vermisste. Und sie vermisste auch die zukünftige Melinda, die Tochter, die eines Tages Mutter geworden wäre und sie zur Großmutter gemacht hätte. Melinda wäre eine gute Mutter gewesen.
Laverne fuhr
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