Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
meisten für die Aussicht. Ihre große Handtasche an sich gedrückt, blickte sie voller Begeisterung aufmerksam nach draußen. Sie heftete den Blick auf Farmfelder, auf denen schwarze Angus-Rinder weideten. Als sie am Stadtschild von Fitchburg vorbeikamen, meinte sie: »Klingt wie ein Name aus dem Bürgerkrieg.« Sie stupste Marnie an, als sie am Himmel einen Falken fliegen sah. Marnie heuchelte höfliches Interesse und wandte sich dann wieder ihrem Atlas zu. Als sie sich dem Mississippi näherten, wurde die Gegend bergiger und die Straße verschwand oft zwischen drei Stockwerke hohen Felswänden. Laverne staunte mit offenem Mund.
Am Ende des Nachmittags, als sie sich der Grenze zu Iowa näherten, sahen sie ein Schild, das auf den letzten Rastplatz in Wisconsin hinwies. »Möchte jemand Halt machen?«, fragte Rita wieder einmal.
»Darauf kannst du wetten«, antwortete Laverne. Rita bog vom Freeway auf die lange Ausfahrt zum Rastplatz ab. In der Ferne entdeckten sie einen Parkplatz und ein Gebäude, vor dem ein Fahnenmast stand. Ganz oben wehte eine US-Fahne im Wind und darunter die Fahne des Bundesstaats Wisconsin.
»Hier war ich mal mit meiner Tochter«, erzählte Rita. »Das Gebäude ist von Frank Lloyd Wright inspiriert – es ist im Prärie-Stil erbaut. Hinten ist eine sehr schöne Veranda, die in Richtung Mississippi liegt. Man kann den Fluss zwar nicht sehen, aber man spürt doch, dass er da ist.« Sie klang traurig, aber als sie Jazzys Blick auffing, brachte sie ein schwaches Lächeln zustande.
Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren, drehte Rita sich um, um die Türen mit dem Funkschlüssel abzuschließen.
Piep, piep.
Laverne blieb hinter den anderen zurück, als watete sie durch Wasser. »Geht einfach schon vor«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich langsam bin.«
Jazzy blieb an ihrer Seite. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Wir haben es nicht eilig.« Sie begleitete Laverne nach drinnen und sah ihr nach, als sie die Damentoilette zur Linken betrat. Dann blieb sie beim Trinkbrunnen stehen, trank langsam und befeuchtete sich die Lippen mit dem Wasserstrahl. Er war kalt, rein und erfrischend, als wäre Frühling. Sie ging wieder nach draußen und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. Was für ein wunderschöner, sonniger Tag. Genauso, wie man es sich erträumte, wenn der Winter am schlimmsten war.
Sie schlenderte zu einem der mit Sonnenschirmen versehenen Picknicktische hinter dem Gebäude und lehnte sich dagegen, setzte sich aber nicht hin. Es war angenehm im Schatten. Plötzlich kam ihr der Gedanke, zum Rand der Lichtung zu gehen, näher zu den Bäumen und dem hohen Gras. War das ihr eigener Gedanke oder kam er von außen? Das war nicht immer leicht zu sagen. So oder so erschien es ihr ganz vernünftig. Jazzy stieg den Hang hinunter. Jetzt war sie in der Nähe einer Baumgruppe, eines so dichten Baumdickichts, dass es fast schon ein Wald war, und die Stimme sagte:
Schließe die Augen.
Sie hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, die Arme auszubreiten, und wurde sich des Raschelns des Windes in den Bäumen und der Abgase, die vom Parkplatz herüberwehten, jetzt erst richtig bewusst. Sie stellte sich vor, sie sei mit allem verbunden, was sie umgab. Die Luft in ihrer Lunge, die Energie in ihren Armen und Beinen, die Nervenströme in ihrem Gehirn, alles verband sich mit allem und jedem im Universum. Sie holte tief Luft und hielt die Arme weiter ausgebreitet. Am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt.
Bleib still stehen
, sagte die Stimme.
Sei offen für das, was kommen mag.
16
Rita kam als erste aus der Toilette. Sie verweilte vor dem Schaukasten, warf einen Blick auf die Broschüren im Gestell und trank auf dem Weg nach draußen einen Schluck Wasser aus dem Trinkbrunnen. Sie waren erst seit ein paar Stunden unterwegs, doch sie bezweifelte jetzt schon, ob ihre Entscheidung zu dieser Reise klug gewesen war. Das Ganze war ihr als eine gute Idee erschienen, als Jazzy in der Trauergruppe den Vorschlag gemacht hatte. Rita brauchte ja weiß Gott wirklich etwas, was sie aus ihrem eingefahrenen Gleis holte. Glenn versuchte es seit Jahren, der Gute, aber vergebens. Sie hatten Reisen unternommen, sich ein Kätzchen angeschafft und ehrenamtliche Arbeit in einem Obdachlosenasyl geleistet. Doch bei alldem dachte sie nur immer, wie schön es wäre, wenn Melinda dabei wäre.
Diese Reise war anders, vor allem, weil Glenn nicht dabei war, aber auch, weil sie diese Frauen erst nach Melindas Tod kennengelernt hatte. Sie
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