Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
hatte geglaubt, dass dieser Ausflug sie vielleicht, nur vielleicht, von ihrer Trauer ablenken würde. Und es funktionierte ja auch, zumindest halbwegs. Beim Fahren musste sie sich konzentrieren und die anderen Frauen waren bisher nett. Warum fühlte sie sich dann bloß so allein?
Eine Frau mit einem Baby im Buggy näherte sich der Glastür und Rita öffnete sie von innen. Die Frau trug Turnschuhe, Spandex-Shorts und ein Top und wirkte ganz entschieden sportlich. »Vielen Dank«, sagte sie strahlend, lenkte den Buggy mit der einen Hand und führte mit der anderen eine Wasserflasche zum Mund. Rita nickte und nachdem der Buggy durch die Tür war, ging sie nach draußen und wartete dort auf die anderen.
Um sich die Beine zu vertreten, schlenderte Rita den sanft geneigten Hang hinunter und entfernte sich entlang der V-förmigen, rückwärtigen Veranda vom Gebäude. Die Sonne wärmte ihr das Gesicht und sie hob das Kinn, um die Strahlen richtig auszukosten. Dann blieb sie bei einem Picknicktisch mit Sonnenschirm stehen.
Gleich darauf entdeckte sie Jazzy, die zwanzig Meter entfernt am Rand eines Wäldchens stand. Sie hatte die Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen und drehte sich ganz, ganz langsam um sich selbst. Rita wollte gerade nach ihr rufen, als sie plötzlich ein Tier sah, das mutig zwischen zwei Büschen hervortrat. Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Das Tier, eine ausgewachsene Hirschkuh, ging bedächtig auf Jazzy zu. Rita hielt den Atem an. Was für ein bemerkenswerter Anblick.
Laverne tauchte neben Rita auf und beobachtete, wie das Tier sich Jazzy näherte. Die Hirschkuh kam ganz dicht an Jazzy heran und stupste mit der Schnauze ihre Hand an.
Die beiden Frauen beugten sich vor. Laverne wandte sich Rita zu und flüsterte laut: »Heiliger Bimbam! Eine zahme Hirschkuh, was soll man denn davon halten?«
Rita schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie zahm ist.« Sie heftete den Blick auf Jazzy und hoffte, dass sie sichnicht bewegen würde. Sie befürchtete, dass das leiseste Zucken die Hirschkuh verscheuchen könnte.
»Oh«, sagte Laverne so leise, dass es eher ein Ausatmen als ein Wort war. Sie hob den Arm und deutete stumm auf das Baumdickicht hinter Jazzy, aus dem sich mit federnden Schritten eine Gruppe Hirsche löste.
Rita zählte sie. Erst fünf, dann sechs und jetzt waren es sieben. Alles in allem acht, lauter Hirschkühe. Sie traten dicht geschart heraus und blieben nah beim Waldrand stehen, den Blick auf Jazzy und die erste Hirschkuh gerichtet. Das Geräusch, das ein abfahrender Lastwagen auf der anderen Seite des Gebäudes machte, schreckte die Tiere nicht auf. Rita dagegen schon. Sie hörte den Motorlärm und roch gleich darauf die Abgase.
Ein Wind kam auf und wehte Jazzys Haar von den Schultern hoch. Es flatterte in der Luft wie ein Tischtuch, das ausgeschüttelt wird. Jazzy schlug die Augen auf, wirkte aber nicht bestürzt, eine Hirschkuh zu sehen, die ihre Hand beschnüffelte, und acht weitere, die aufmerksam zuschauten. Die junge Frau und die Hirschkuh hefteten ihre Blicke ineinander und die Hirschkuh trat näher. Jazzy streichelte ihren Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Die Hirschkuh hob den Kopf und stieß die Schnauze gegen Jazzys Schulter.
Auf dem Parkplatz hinter sich hörte Rita jetzt einen Wagen, der einparkte, und das Geräusch von Autotüren, die geöffnet und zugeschlagen wurden. Ein kleiner Junge rief: »Mommy! Guck mal! Lauter Hirsche.«
Aus dem Augenwinkel sah Rita den Jungen auf die Tiere zu rennen. »Moment noch, Tyler«, rief seine Mutter, aber er hörte nicht auf sie. Als der Junge näher kam, wurden aus denzahmen Geschöpfen wieder Wildtiere. Es war eine sehr körperliche Reaktion; sie hoben die Köpfe, als witterten sie Gefahr, drehten sich um und stießen sich mit den Beinen ab – ihre weißen Schwänze blitzten hinter ihnen her, als sie im Wald verschwanden.
Der kleine Junge machte enttäuscht kehrt. »Sie haben nicht auf mich gewartet«, jammerte er.
»Mach dir nichts draus, Liebling«, sagte seine Mutter. »Du kannst dir einen Schokoriegel aus dem Automaten ziehen.« Die Familie ging ins Gebäude, vorbei an Marnie, die gerade herauskam. Sie stieg den Hang hinunter und gesellte sich zu Laverne und Rita am Picknicktisch. »Habe ich was verpasst?«, fragte sie.
17
Als sie sich auf dem Highway 151 dem Mississippi näherten, rief Rita: »Wenn wir erstmal auf der anderen Seite des Stroms sind, lassen wir Wisconsin hinter uns und fahren durch
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