Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
das Fenster ein Stück herunter und streckte vorsichtig die Hand hinaus. »Aah«, sagte sie die Augen schließend. Sie sah euphorisch aus.
Rita blickte in den Rückspiegel und lächelte. »Wenn ich die Klimaanlage anstellen soll, sagen Sie einfach Bescheid.«
Laverne, noch immer mit geschlossenen Augen, erwiderte: »Im Moment ist es genau richtig so, wie es ist. Sagt einfach Bescheid, wenn wir die Bundesstaatsgrenze überfahren. Ich habe Wisconsin noch nie verlassen. Ich möchte es bewusst erleben.«
»Du hast Wisconsin noch nie verlassen? Ist das wirklich wahr?!« Jazzy riss die Augen auf. Sie drehte sich um. »Warum denn nicht?«
»Wir hatten nie das nötige Kleingeld, um uns herumzutreiben. Ich hatte Kinder und die brauchten Schuhe und Essen und was weiß ich noch alles. Und als sie erwachsen waren, haben wir fürs Rentenalter gespart. Es ging immer so weiter.«
»Trotzdem«, meinte Jazzy. »Wisconsin sein ganzes Leben lang nicht zu verlassen!«
»Mein Leben ist noch nicht vorüber.« Laverne machte das Fenster zu. »Und jetzt fahre ich doch aus Wisconsin heraus, oder?«
»Du fährst nicht nur aus Wisconsin heraus, du bist auch aufdem Weg nach Las Vegas«, sagte Rita.
»Das Sündenbabel!«, meinte Jazzy.
»Dort liegt die Hoover-Talsperre«, bemerkte Rita.
»Es ist eine Oase in der Wüste«, fügte Jazzy hinzu.
»Glücksspiel«, erklärte Laverne mit leuchtenden Augen.
Und Marnie fügte leise hinzu: »Der Ort, wo ich endlich Troy wiedersehen werde.«
15
Jazzy summte die Musik mit. Zu Beginn der Fahrt hatte sie gefragt, ob sie ihren iPod an die Stereoanlage des Autos anschließen dürfe, und den anderen war das recht gewesen. Seitdem hatte sie viel Zeit damit verbracht, durch ihre Songs zu scrollen, damit die Musik auch zur Aussicht passte.
Sie hatten zu einer Routine gefunden. Etwa jede Stunde machten sie eine Toilettenpause. Marnie fand sie nicht wirklich nötig, schloss sich den anderen beiden aber trotzdem an, nur für alle Fälle. Jazzy lehnte ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, so oft pinkeln zu müssen. »Habt ihr eigentlich mal daran gedacht, einen Arzt zu fragen, ob das noch normal ist?«, hakte sie nach, worüber die anderen lachen mussten. Als Rita anfangs von häufigen Toilettenpausen gesprochen hatte, hatte Jazzy sich nicht träumen lassen, dass es so oft sein würde. Guter Gott, wie konnte eine Frau ihr Leben bewältigen, wenn sie ständig alles unterbrechen und sich auf die Jagd nach einer Toilette machen musste?
Meistens hielt die Gruppe nach ihren Lieblingstoiletten auf den parkähnlichen Rastplätzen Ausschau, die man an den Highways Wisconsins fand. Wenn sie hielten, gingen die anderen Frauen zur Toilette, während Jazzy sich zur Schautafelbegab und die große Straßenkarte des Bundesstaats studierte, auf der ein roter Pfeil einem seinen Standort zeigte. Ihre Lehrerin in der dritten Klasse hatte ihr gesagt, Wisconsin sei wie ein Fausthandschuh geformt, und das stimmte auch irgendwie, wenn ihr inzwischen auch aufgefallen war, dass Michigan sogar eindeutig noch mehr die Form eines Fausthandschuhs hatte.
Marnie verbrachte im Auto viel Zeit mit einem Straßenatlas, in dem sie den zurückgelegten Weg mit dem Finger nachfuhr. Jazzy wusste, dass Marnie sich wünschte, sie könnten schneller an ihr Ziel gelangen. Jazzy hatte sich unfreiwillig in Marnies Bewusstseinsstrom eingeklinkt und fing ihre Gedanken und Gefühle auf. Marnies Inneres war kein angenehmer Aufenthaltsort. Diese Frau zog ständig über sich selbst her. Bei ihrer jüngsten Selbstgeißelung ging es um ihre Angst vorm Fliegen. Seit dem Beginn der Fahrt hatte Marnie immer wieder denselben Gedanken gedacht.
Wenn ich keine solche Angst vorm Fliegen hätte, könnte ich jetzt schon in Las Vegas sein. Wenn ich keine solche Angst vorm Fliegen hätte, könnte ich jetzt schon in Las Vegas sein
. Es machte Jazzy wahnsinnig. Sie hätte Marnie gerne gesagt, sie solle nicht so streng mit sich sein. Jeder hatte doch eine Schwachstelle: irgendeine Angst, einen Fehler oder ein Problem. Und manche Menschen hatten gleich mehrere. Die Probleme waren doch erst das, was die Leute menschlich machte – sie förderten das Mitgefühl und ermutigten das innere Wachstum. Was hätte es für einen Sinn, wenn jeder vollkommen wäre? Das hätte sie Marnie gerne gesagt, aber aus Erfahrung wusste sie, dass sie sie mit Worten nicht würde erreichen können. Das war etwas, was Marnie selbst lernen musste.
Von ihnen allen interessierte sich Laverne am
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