Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
wieder gingen ihr seine Worte durch den Kopf. Troy war allein. Er war unglücklich. Er vermisste sie. In ihrer Erinnerung war er der kleine Junge, der während des Gewitters geweint hatte, weil er sich um die Tiere draußen Sorgen machte. Er war ein süßes, empfindsamesKind gewesen. Sie wusste, dass das süße Kind unter der ruppigen Teenagerfassade noch immer da war.
Nachdem sie stundenlang nicht hatte schlafen können, stand sie auf und putzte sich die Zähne. Als sie sich selbst im Spiegel erblickte, war es, als sehe sie eine Fremde. Sie war so allein auf der Welt, dass sie nicht mehr wusste, wer sie war. Sie setzte die Brille auf, strich sich das schulterlange Haar glatt und versuchte, sich durch einen aufmerksamen Blick in ihr Gesicht ihrer Identität zu vergewissern. Während des Schuljahrs war sie Ms. Mayhew, für ihre Geschwister würde sie immer die kleine Marnie bleiben und für Brian und Troy war sie Marn gewesen. Troy. Der Gedanke an ihn entlockte ihr ein Lächeln. Oh, sie liebte diesen Jungen über alles, aber sie war nicht seine Mutter und würde es auch niemals sein.
Marnie hatte diese Woche ein Dutzend Mal nach dem Telefon gegriffen, sich aber jedes Mal gegen einen Anruf entschieden und es wieder weggelegt. Sie wollte Kimberly nicht vorwarnen. Außerdem befürchtete ein Teil von ihr, dass Troy ein tapferes Gesicht aufsetzen und ihr sagen würde, sie solle nicht kommen. Das war jetzt keine Option mehr. Marnie hatte sich entschieden. Sie musste ihn persönlich sehen, weil sie etwas brauchte. Was dieses Etwas war, konnte sie nicht recht sagen. Ein Abschluss? Beruhigung? Das Wissen, dass sie wichtig für ihn gewesen war?
Und ein Teil von ihr wollte Troy am liebsten mitnehmen. Kimberly sagen, dass er nicht ins Lager fahren, sondern mit ihr heimkommen würde. Sie wollte ihr Kind zurückfordern. Bei dem Gedanken schüttelte Marnie den Kopf. Das würde sie sich niemals trauen.
Als Rita und Jazzy ankamen, hielten sie am Straßenrand vor dem Haus und hupten leise. Marnie ging zum Fenster und sah sie aus Ritas Auto steigen. Da Ritas kurz geschnittenes Haar silbrig grau war und Jazzy ihr Haar lang und blond trug, war der Altersunterschied unübersehbar; sie könnten Mutter und Tochter sein. Jazzy trug ein lose fallendes Sommerkleid, das hinten gebunden wurde, während Rita mit Capri-Hosen, einer weißen Bluse und silbernen Riemchensandalen ihr übliches elegantes Selbst war. Als Jazzy hochblickte, machte Marnie mit dem Finger ein Zeichen, dass sie in einer Minute unten sein würde.
Sie hatte bereits die Kühlbox ins Treppenhaus geschleppt und sah jetzt noch einmal in der Wohnung nach, obsie auch wirklich den Thermostat und alle Lichter ausgeschaltet hatte, als Rita durch die offene Tür hereinkam. »Falls du Hilfe brauchst, hier sind wir«, sagte Rita, drehte sich dann um und sah, dass Jazzy ihr nicht gefolgt war. Sie zuckte mit den Schultern. »Eben war sie noch direkt hinter mir. Jedenfalls, ich bin da. Kann ich dir bei etwas helfen?«
Sie mussten beide anpacken, um die Kühlbox die Treppe hinunterzubugsieren. Rita ging vorne und stieg rückwärts eine Stufe nach der anderen hinab. »Was hast du denn da drin?«, fragte sie unter dem Gewicht ächzend.
»Ich weiß, es wirkt ein bisschen übertrieben«, sagte Marnie, »aber ich finde es gut, wenn man vorbereitet ist. Meine Devise ist, besser man hat es und braucht es nicht, als man braucht es und hat es nicht.«
»Lieber leicht reisen, das ist meine Devise. Wenn man etwas vergessen hat, kann man es immer noch unterwegs kaufen«,meinte Rita und setzte die Kühlbox kurz zum Ausruhen ab. Sie drehte sich um und brüllte: »Jazzy!«
Als keine Antwort kam, sagte sie: »Ich glaube, wir haben unsere junge Freundin verloren.« Sie wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. »Was bedauerlich ist, weil sie die Navigatorin ist.«
Sie stiegen weiter die Treppe hinunter und bogen auf dem Treppenabsatz um die Ecke. »Falls du den Weg nicht weißt, habe ich Straßenkarten dabei«, sagte Marnie.
»Karten sind Quatsch«, gab Rita zurück. »Die kann doch sowieso keiner lesen. Jazzy hat ein Navi mitgebracht.«
Als sie draußen ankamen, stellte Marnie zu ihrer Erleichterung fest, dass der Wagen einen beachtlichen Kofferraum aufwies. »Nettes Auto«, sagte sie, als sie die Kühlbox hineinwuchteten.
»Das ist nicht einfach nur ein Auto. Es ist ein Crown Victoria«, meinte Rita in spöttischem Tonfall. »Mein Mann liebt ihn. Es hat ihn ein bisschen nervös
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