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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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dunkelblau und weiß gestreiften Krankenhausnachthemden, die aus dem gleichen steifen Material waren, aus dem man Matratzenschoner macht; ihre nackten Füße waren angeschwollen und blau, ihre Arme und Oberkörper steckten in Zwangsjacken aus Segeltuch; sie standen nebeneinander auf der Treppe, die vom Aufenthaltsraum in den kleinen Turnhof führte; und jetzt noch, nach Jahren, höre ich ihr Bellen, Jaulen und Winseln, während sie ihre grotesken hündischen Gesten vollführten und sich mit dem Einsetzen der Pubertät zu paaren versuchten wie Hunde. In Vollmondnächten heulten sie und übertönten das Durcheinander der nächtlichen Rufe und Schreie.
    Ich holte tief Atem und versuchte so, die Erinnerungen auszulöschen, die dahinschwelen und sich – das weiß ich genau – niemals in tote graue Asche verwandeln werden. Die Martin-Zwillinge. Ich hätte ihnen damals so gerne geholfen. In mir erwachte das Gefühl, dass ich, indem ich die weltlichen Güter der Garretts erbte und um die Tragödie ihrer Tochter wusste, auf seltsame Weise die Bürde des Lebens der Zwillinge Tessa und Joan Martin erleichterte, denn sie lebten, wie ich gehört hatte, noch immer in jener Anstalt, zusammen mit all den anderen, die von den selektiven medizinischen Wundern übergangen worden waren. Durch ihr Älterwerden gab es noch einen Grund weniger, ihnen Liebe entgegenzubringen – die Gleichsetzung der Kinder mit Haustieren –, und die Zeit der Weihnachtsfeste ging an ihnen vorüber und ließ sie zurück in der unvorstellbaren Reife ihrer «mittleren Jahre». Ich kann nicht erklären, warum ich glaubte, ich könnte ihnen helfen, aber sie wurden zu einem Bindeglied zwischen mir und den Garretts, nicht nur, weil sie mich an Adelaide erinnerten, sondern auch, weil sie eine weitere Art von Reproduktiondarstellten, die Nachbildung eines menschlichen Wesens durch ein anderes, und als dieses Bindeglied waren sie endlich von Nutzen und wurden gebraucht und besaßen Stärke – drei Eigenschaften, von denen, wie ich dachte, wenige auch nur träumen konnten. Ihr Einfluss war trotz räumlicher und zeitlicher Entfernung ungeheuer groß, und bezeichnenderweise – denn so verhält es sich mit Einflüssen – würden sie nie etwas davon erfahren.
    «Es war schwierig, sich die kleine Adelaide als einen Menschen vorzustellen», sagte Julian Soule.
    «Aber sie war doch ein Mensch.»
    «Sie war einem Menschen höchstens ähnlich.»
    Ich wechselte das Thema.
    «Die Garretts haben einige interessante Stücke aus Italien», sagte ich. «Einen Mosaikglastisch zum Beispiel, so wie der in den Uffizien.»
    «Vielleicht hätten ihre Freunde etwas in der Art gern als Andenken», schlug er vor.
    «Ja, natürlich. Ich werde ihnen die Wahl überlassen.»
    «Übrigens», sagte er, als ich sein Büro gerade verlassen wollte, «Sie sind den Garretts gar nicht so unbekannt gewesen, wie Sie vielleicht glauben.»
    «Ich weiß, sie haben meine Bücher gelesen.
Die grüne Zündschnur …»
    «Dann war das also ein Buchtitel! Mir war das nie ganz klar. Sie sagten, Sie seien ‹durch
Die grüne Zündschnur
bekannt›. Ich habe gedacht, es handelt sich um eine studentische Verbindung, wissen Sie.»
    Dann sagte er nochmals, dass die Garretts keine lebenden Verwandten hätten, und zwang mich damit erneut, den Glauben daran aufzugeben, dass jeder Mensch irgendwo irgendjemandenhat, und sei es auch nur ein Cousin zweiundvierzigsten Grades, eine entfernt verwandte Tante, irgendwer, von dem man jahrelang nichts gesehen oder gehört hat, der aber anlässlich eines Todesfalles wieder auftaucht, weil er dem gemeinschaftlichen Appell von ehrlicher Trauer, Familienloyalität und der Aussicht auf eine Erbschaft Folge leistet.
    Ich fuhr mit dem Taxi von Julian Soules Büro zu «meinem» Haus in der Grizzly Peak Road. Mein Widerstreben bei dem Vorschlag, «Andenken» herzuschenken, hatte mich selbst überrascht. Ich dachte an meinen ersten wirklichen Besitz, oder besser, an den ersten, den ich als etwas von mir Getrenntes wahrnahm: ein goldenes Samtkleid in der Farbe von Jersey-Rindern und Chrysanthemen. Ich trug es wie eine Haut und konnte es doch ablegen und, im Gegensatz zum getöteten Kaninchen auf unserer Wiese, am Leben bleiben.
    An jenem Abend rief ich Brian in Baltimore an, um ihm von den außergewöhnlichen Ereignissen zu erzählen. Ich hörte, wie das Telefon läutete. Niemand hob ab, und ich nahm an, dass er schon unterwegs war zu seiner Tagung in Europa.

20
    Bald meldeten sich die

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