Auf dem Rücken des Tigers
nicht, die Zeitungen zu lesen, die man ihm morgens brachte; er wollte nicht durch das Geräusch des Umblätterns den Schlaf des Patienten gefährden. Er schaltete auch das Radio nicht ein, er verzichtete selbst auf die Armbanduhr, deren Ticken ihm nur vorrechnen würde, wieviel Leben er seit Lauras Tod nutzlos vertan hatte.
Nach zwei Tagen ließ Wolfgangs Befinden erkennen, daß sich die Ohnmacht allmählich lichten würde. Es konnte sowohl ein Zeichen der Besserung sein, wie eine Vorwarnung des zweiten Infarkts, den Dr. Federbein befürchtete.
Christian klingelte.
Der Arzt betrat so prompt den Raum, als hätte er vor der Tür auf das Zeichen gewartet. Er trat lautlos auf, wie in Filzpantoffeln. Christian blicklos zunickend, betrachtete er den Patienten, fühlte den Puls, hörte die Herztöne ab, injizierte ein Beruhigungsmittel.
Nach ein paar Minuten hatte sich der Schlaf des Herzkranken wieder verdichtet.
»Die Wirkung des Medikaments«, sagte der Arzt leise, »hält ein paar Stunden an. Sie sollten an die frische Luft gehen oder sonst etwas tun, um sich abzulenken.«
»Wie geht's ihm?« fragte Christian hastig.
»Unter diesen Umständen«, erwiderte Dr. Federbein, »könnte es ihm nicht besser gehen.«
Christian horchte den Worten nach, ihren eigentlichen Sinn erfassend. Schlechteres Ergehen heiße wohl: Aus. Vorbei. Exitus.
»Kommen Sie jetzt«, sagte der Arzt.
Sie gingen nebeneinander über den Gang, und eine Weile spürte Christian die Illusion, er liefe neben dem Freund her, neben einem verjüngten, kräftigen Wolfgang, dessen Leben nicht durch verzweifelte Maßnahmen geschützt zu werden brauchte. Er hatte diesen Dr. Federbein für eine Karikatur des Freundes gehalten; nun war er froh, daß er in diesem Maße Wolfgang ähnelte: Einen besseren Arzt als Wolfgang kannte er nicht, auch wenn der Freund Lauras Leben nicht hatte festhalten können.
»Wie lange stehen Sie das noch durch?« fragte der Arzt.
»Solange es nötig ist«, antwortete Christian. »So – schlimm?«
Der Mann im weißen Kittel machte eine unbestimmte Bewegung: »Wenn es gut aussähe«, entgegnete Dr. Federbein, »würde ich Ihnen diese Prozedur nicht zumuten.« Er zog seinen Patienten, den er zum Krankenpfleger ernannt hatte, weiter.
Christian ging, einen halben Schritt zurück, neben ihm her wie ein beflissener Assistent. Unter anderen Umständen wäre dieser Situationskomik einiges abzugewinnen, aber die Sorge um den Freund hatte die Frivolität stranguliert.
Sie hatten den Hof erreicht.
Der Arzt merkte, daß er seinen Begleiter nicht abschütteln konnte; er nahm ihn mit in des Prügel-Müllers seltsame Gemüse-Saft-Bar.
»Hören Sie, Doktor«, sagte Christian. »Ihr Chef und ich, wir haben aufregende Dinge hinter uns. Wenn er mich beim Erwachen erkennt, muß er doch sofort daran erinnert werden.«
»Habe ich mir schon überlegt«, erwiderte Dr. Federbein. »Aber nicht Ihren Freund bedrängen diese Erinnerungen, sondern Sie.«
»Uns beide.«
»Sie allein«, versteifte sich der Arzt. »Dr. Müller ist damit fertig geworden. Nicht Ihre Vergangenheit bedrückt ihn, sondern – Sie sind doch nicht zimperlich? – Ihr heilloses Leben.« Dr. Federbein musterte ihn. Er sprach rasch, mit der Stimme eines Dogmatikers: »Wenn er zu sich kommt und Sie neben sich sieht, sozusagen an sein Bett gefesselt, muß es ihn beruhigen – wenn ich ihn richtig einschätze.«
Er griff in die Tasche. Auf einmal hatte er eine Zigarette in der Hand, wollte sie zerstreut anzünden, fing Christians Blick auf, lächelte zerknirscht, zerkrümelte die Zigarette, warf sie in den Ausguß und wusch sich demonstrativ die Hände.
»Sie sind ja ein Mensch, Doktor«, sagte Christian.
»Quatsch«, versetzte der Arzt, »wenn wir Ihren Freund durchgebracht haben, dann werden wir in diesem Sanatorium eine Alkohol- und Nikotin-Orgie auf die Bretter legen, daß uns das Innenministerium den Eingang zunagelt.« Außer Atem setzte er hinzu: »Dann …«
»Gut«, erwiderte Christian, »und was kann ich dazu tun?«
»Wenn Dr. Müller das Koma abgeschüttelt hat«, sagte der Mann im weißen Kittel, »fangen Sie dann ja nicht an, wie ein verstörter Schüler Gedichte aufzusagen.« Er ging an die Theke: »Sellerie oder Eberesche?« fragte er.
»Karottensaft«, antwortete Christian.
»Mein Professor hat mal einen Patienten in ähnlicher Lage durchgebracht: er legte die Frau neben ihn. Als der Kranke mit dem Infarkt aufwachte, begann sie sofort, mit ihm zu
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