Auf dem Rücken des Tigers
Eckplatz bei den Trauerweiden erreicht hatte. »Stinkbesoffen natürlich – aber das weißt du ja.«
Der Wind bewegte die Trauerweiden, er strich an der Mauer entlang, pfeifend, winselnd, Christian nahm die Flasche aus der Tasche, hob sie an den Mund: »Prost, Laura«, sagte er. »Sieht ja schändlich aus, dein Grab, tote Blumen, na so was.« Er nahm die Flasche und schüttete den Rest über das Grab, als könnte er mit Schnaps die Blumen zum Blühen bringen, und das im Dezember. Er nahm die zweite Flasche. »Neben wem liegst du eigentlich?« führte er seinen Monolog weiter. Er ging an das Nachbargrab, zündete ein Streichholz an und las: ›Gabriel Sedelmeier, Privatier‹.
»Mädchen«, murmelte er, »du wirst mich doch nicht auf deine alten Tage noch betrügen, wie wir damals Wolfgang betrogen haben. Weißt du noch, schon 'ne Weile her, aber …« Er spürte Zorn über seine Vergangenheit, aber auch eine unbestimmte Zärtlichkeit, die vielleicht aus der Gruft kam oder vom Schnaps oder aus der Erinnerung, und wenn er einen Spaten zur Hand gehabt hätte, würde er sich in diese frostharte Erde hineingebohrt haben, immer tiefer, an Lauras Seite, aber er hatte keinen Spaten, und wenigstens im Tod gehörte der Platz an ihrer Seite Wolfgang, dessen Frau sie ja immer gewesen war, eme schöne Frau, die sich so lange vor ihrem Schicksal gefürchtete hatte, bis sie von ihm eingeholt worden war.
Christian glaubte Schritte zu hören und Schatten zu sehen; er achtete nicht darauf, als er das Grabkreuz umklammerte wie eme Geliebte, in deren Armen er zusammenbrach, vom Weinkrampf geschüttelt, und Tränen machen blind.
»Was tun Sie denn da?« fuhr ihn eine barsche Stimme an.
Erst jetzt merkte Christian, wie kalt seine Geliebte war.
»Besoffen, was?« sagte ein zweiter Uniformierter: »Können Sie sich ausweisen?«
Christian ließ das Grabkreuz los, er sah die Männer, sah ihre Gesichter, Gesichter von Banausen, die Laura in ihrer Ruhe belästigen würden. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben, und ihr plumper Schatten sollte nicht über ihr Grab fallen.
Er handelte spontan, schleuderte erst den vor ihm Stehenden mit einem Ruck auf seinen Kollegen und lief dann blindlings davon.
Es wurde eine Verfolgungsjagd im Schneetreiben auf dem nächtlichen Friedhof. Christian stand in einem Mausoleum und ließ die Polizisten an sich vorbeilaufen.
Er wartete ab, bis sie in die falsche Richtung gegangen waren, bedauerte noch, daß er eine halbe Flasche zurückgelassen hatte, aber seine Mission war erfüllt. Laura wußte, daß Wolfgang tot war und ihr von nun an immer bleiben würde, damit sie nicht allein sein müßte, in dieser harten kalten Erde, mit einem dummen Privatier in der Nachbarschaft.
Alle Probleme schienen gelöst – der Tod löschte ohnedies alle erotischen Schwierigkeiten – und so hieße es für Christian jetzt nur noch: auf, über die Mauer, hinein in die nächste Pinte.
Er kam nur bis zur nächsten Pforte.
Dort griffen sie ihn.
Am ordnungsgemäß aufgeschlossenen Hauptportal stand ein Funkstreifenwagen, daneben mit wichtigem Gesicht der Taxifahrer. »So eine Gemeinheit«, sagte ein aus dem Bett geholter Friedhofswärter, und Christian überlegte, was wohl ein kleiner städtischer Angestellter von den Gemeinheiten dieser Welt verstehen mochte.
Sie brachten ihn in eine Ausnüchterungszelle des Polizeipräsidiums, sie brauchten nicht erst eine Blutprobe zu machen, um festzustellen, daß der Festgenommene sinnlos betrunken war.
Er würde binnen vierundzwanzig Stunden dem Ermittlungsrichter auf dem gleichen Flur vorgeführt werden und dann, so er einen ordentlichen Wohnsitz nachweisen könnte, wohl bis zu Beginn der Strafverhandlung – wegen Verächtlichmachung einer Toten und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt – wieder auf freien Fuß gesetzt werden.
Hatte er einen ordentlichen Wohnsitz?
Die Kriminalwache überprüfte Christians Personalien, und da hier meistens junge Beamte, die noch ehrgeizig waren, den Nachtdienst versahen, taten sie es genau.
Dabei entdeckte einer von ihnen einen Vermerk, daß sich die Polizei – im Falle eines Falles – mit dem Verfassungsschutz ins Benehmen setzten solle.
Der Verfassungsschutz hatte in den Nachtstunden nur Jourdienst, aber auch hier war – bei allen Behörden herrschte statt des Föhn-Schlendrians pedantische Ordnung – eine Nachricht hinterlegt, daß bei allen Vorgängen um Herrn Christian Schindewolff-Bamberg die Bundeszentrale in Köln
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