Auf dem Rücken des Tigers
einmal Essen fassen sollten.
»Mein Schwager ist ein Patient«, begann Aglaia, »und gewiß kein Verbrecher. Sie wissen, er ist ein wenig unvernünftig. Man muß ihm zu seiner Gesundheit mit einem gewissen Nachdruck verhelfen.« Sie wartete, bis der Richter nickte. »Mein Mann wie ich haben ihn schon wiederholt zu freiwilligen Entziehungskuren überreden können, aber …« Sie senkte die Augen; wie bedrängt von der Sorge, wurde ihre Stimme schwächer: »Er bricht eben immer wieder aus, und dann stellt er solche Dinge an.«
»Ich weiß«, antwortete der Ermittlungsrichter. »An sich ist Ihr Herr Schwager ein glatter Fall für die Anwendung unseres Bayrischen Verwahrungsgesetzes. In der Praxis sieht das so aus«, fuhr er fort, »daß das Gesundheitsamt über die städtische Behörde einen Einweisungsantrag in eine geschlossene Anstalt stellt, über den dann richterlich zu befinden wäre.«
»Zur Stunde sind unsere Anwälte bei den zuständigen Behörden«, erwiderte Aglaia, »die bereits jede Hilfe zugesagt haben. Aber Sie wissen, die Behörden sind überlastet, und es kostet Zeit, und …«
»Ich weiß«, entgegnete Alois Schnieberl: Es war ihm längst klargeworden, daß die Familie ihr schwarzes Schaf hinter Gitter bringen wollte, wozu sie auch jeden Grund zu haben schien.
»Ein Selbstmordversuch«, sagte Aglaia, »ständige Wiederholungsgefahr.«
Der Richter nickte.
»Sie kennen die Geschichte mit dem Zyankali?« fragte sie.»Mein Schwager hatte eine ganze Horde von Gästen. Es ist ein reiner Glücksfall, daß es keine Toten gegeben hat.«
»Schrecklich«, erwiderte der Richter. »Sie dürfen die Gewißheit mitnehmen, daß ich die Verantwortung meiner Entscheidung …«
Aglaia erhob sich, reichte dem Richter die Hand, die er ohne Nachdruck nahm, so gern er sie festgehalten hätte.
»Die besten Ärzte natürlich«, sagte Aglaia, »Geld spielt keine Rolle. Nur, wie gesagt, man muß ihn zu seiner Genesung ein wenig zwingen.«
Der Ermittlungsrichter geleitete die Besucherin an die Tür.
Nur scheinbar ins Leere sehend, verglich er sie mit seiner Frau, die zwar vorzüglich Konfitüre einkochte, aber nicht wußte, wie man das Gesicht einweckte, wie man ging, wie man sprach, wie man lächelte, wie man duftete.
Drei Fälle lang war der Ermittlungsrichter, sonst durchaus verbindlich, sehr schroff zu den Vorgeführten.
Allmählich vergaß er die Begegnung mit Frau Aglaia Schindewolff.
»Soll ich jetzt diesen Schindewolff aufrufen lassen?« fragte ein Polizist.
»Hat noch etwas Zeit«, erwiderte der Ermittlungsrichter.
Über Nacht war das Wetter umgeschlagen. Am sanftblauen Himmel zeigte sich eine pralle Wintersonne, die vergeblich versuchte, die Erde zu erwärmen.
Nicht erst das schöne Wetter erinnerte Jutta, daß sie Christian in seinem Starnberger Sanatorium besuchen wollte. Unter normalen Umständen hätte sie es auch gerne getan, aber sie wollte Christians Fragen über die Zeit mit Erik ausweichen, zumal sie selbst keine Antwort darauf wußte.
Sie nahm den Vorortzug, ging zu Fuß vom Bahnhof in das Sanatorium. Betroffen erfuhr sie, daß der Chefarzt gestorben und sein Patient seit gestern verschwunden sei.
Jutta wußte, daß Christian gewohnt war, Zorn und Trauer mit Alkohol abzutun; er würde in seiner Münchener Wohnung auftauchen, und sie hätte dann Gelegenheit, ihn vor Exzessen zu bewahren.
Per Anhalter fuhr sie wieder nach München zurück.
Jutta wurde unruhig, als sie Christian in seiner Schwabinger Mansarde nicht antraf. Sie forschte in ein paar seiner Stammkneipen nach; niemand hatte ihn gesehen.
Jutta befürchtete, Christian habe auf dem Weg nach Schwabing eine Tollheit begangen. Sie rief die Polizei an, um zu erfahren, daß sie telefonisch keinerlei Auskunft erhielte.
Die Jurastudentin war mit dem Gang der Instanzen vertraut; es gab in einer Großstadt kaum eine polizeilichen Zwischenfall, der nicht im Tagesbericht der Funkstreife auftauchte.
Nur die Pressestelle hatte die Befugnis, Auskünfte an Polizeireporter zu erteilen, aber die Beamten in der Zentrale waren Männer, und mit Männern wußte Jutta umzugehen.
Sie verbarg ihre Sorge hinter einem Lächeln, gab vor, sie sammle für eine Doktorarbeit Eindrücke und wurde, wie erwartet, an den Chef verwiesen. Von dem Funksprecher erfuhr sie die Festnahme »des total betrunkenen Schindewolff, Christian«, der jetzt in der Ausnüchterungszelle untergebracht sei.
Jutta war mit einem Rechtsanwalt befreundet; in seiner Kanzlei wollte
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