Auf dem Rücken des Tigers
München?« sagte der Fahrer. »Das kostet Sie mindestens zwanzig Mark. Nehmen Sie doch den Zug.«
Er erhielt keine Antwort.
»Außerdem müssen Sie mir auch noch die Rückfahrt vergüten«, sagte er.
Während er versuchte, das späte Geschäft auszuschlagen, hatte der Verstörte bereits die Wagentür aufgerissen und im Fond Platz genommen.
Schließlich startete der Fahrer. Was sollte ihm schon passieren? Er war kräftig, sein Fahrgast schwach. Er war abgeschirmt durch eine kugelsichere Scheibe, und München würde er über die Autobahn in knapp zehn Minuten erreichen.
An den Tankstellen brannten Christbäume, aus dem Autoradio kamen Weihnachtsschnulzen: »Süßer die Glocken nie klingen.«
»Schalten Sie das ab«, fuhr Christian den Taxifahrer an. Mürrisch folgte der Mann der Weisung, drehte sich schließlich um und sagte: »Sie ham' aber vielleicht a Stimmung beianand.«
Am Ortsende brannte in einer Wirtschaft noch Licht.
»Halten Sie einen Moment«, sagte Christian, verließ den Wagen, kam mit zwei Flaschen Schnaps zurück, eine in der Jackentasche, die andere in der Hand: Der erste Schnaps seit Wochen, wenn man von dem Vorschuß am Nachmittag absah. Wolfgang hatte ihm das Trinken verboten, aber Wolfgang war tot. Tot wie Laura. Er würde in zwei, drei Tagen beigesetzt werden, hochgeehrt und dann vergessen. Die Worte rauschten durch Christians Bewußtsein: erfülltes Leben – Gottes unerforschlicher Ratschluß – unvergessen für alle Zeiten. Und dann kämen die Kränze, groß und wuchtig, und auf ihren Schärpen stünden Worte, die Wind und Wetter auslöschen würden. In zwei Wochen oder in drei, je nach der Witterung. Jedenfalls schien es Christian, daß es nichts Trostloseres gäbe als ein frisches Grab, ein paar Wochen danach.
Die Flasche hatte einen Patentverschluß. Er brauchte keinen Korkenzieher. Er setzte sie an den Mund, betrachtete den Mann, der ihn fuhr.
Ein Taxi ist kein Sanatorium und sein Chauffeur kein Wärter, und seit Wolfgangs Tod hätte ihm ohnedies keiner mehr etwas zu sagen. Und so trank Christian gierig und zügig, spürend, wie der Schnaps seine trockene Zunge wieder geschmeidig machte, obwohl er schon am Nachmittag sein Quantum gehabt hatte.
Der Wagen erreichte den Verteilerring Fürstenried.
»Fahren Sie nach links«, ordnete Christian an, »Richtung Laim.« Vor dem Portal des Waldfriedhofs ließ er den Wagen anhalten.
»Zahlen!« sagte er.
Der Mann sah auf seinen Taxameter, zögerte: »Hab' Ehana ja gesagt, die Rückfahrt«, brummte er, »sechsundzwanzig Mark.«
Christian reichte ihm einen Fünfzigmarkschein. Als der Fahrer in seinen Taschen nach Wechselgeld kramte, winkte er ab.
»Hängen Sie sich den Rest an den Weihnachtsbaum«, sagte er und stieg aus.
Während er den Schein in der Brieftasche verstaute, sah der Fahrer, wie der Verstörte auf das Portal zuschritt: der Mann mußte komplett verrückt sein, oder total betrunken. Wer versuchte jetzt, nach Mitternacht, einen Friedhof zu betreten, wo doch jedes Kind wußte, daß er laut städtischer Vorschrift ab 18 Uhr geschlossen war?
Der Fahrer verfolgte, wie sein Fahrgast daranging, über die Mauer zu steigen. Er brauchte einige Anläufe, aber schließlich war er oben und sprang auf der anderen Seite in die Nacht.
Christian überstand den Sprung unversehrt und lächelte über seinen Einbruch, der während der Nachtstunden nötig war, da ein Land, in dem die Ordnung der Maßstab aller Dinge ist, selbst die Toten reglementiert.
Der Taxifahrer zögerte kurz: eigentlich ginge ihn die Sache nichts an. Er hätte nicht zu überprüfen, ob der Verstörte Grabschmuck stehlen oder bloß am unpassenden Ort seine Notdurft verrichten wollte. Aber vielleicht wäre er ein Verbrecher auf der Flucht, oder, viel wahrscheinlicher, ein Verrückter, der sich aus der Irrenanstalt davongemacht hatte.
Der Mann in der Lederjacke startete, entschlossen, der Polizei einen Wink zu geben. Er würde nur seine Pflicht tun, und niemand könnte ihn schließlich zwingen, den Fünfzigmarkschein wieder herauszurücken.
Inzwischen lief Christian Spießruten durch Grabkreuze. Zuerst noch Slalom um Gräber, aber dann wurde es ihm zu umständlich, und er nahm direkten Kurs zu Lauras letzter Ruhestätte. Blumen konnte er im Dezember nicht zertrampeln, die Toten würden seinen Tritt nicht spüren und so sie es noch könnten, sich vielleicht freuen, einmal außerhalb der Besuchszeit Gesellschaft zu erhalten.
»Da wär' ich, Laura«, sagte er als er den
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