Auf dem Rücken des Tigers
hier die Prinzessin.«
»Danke«, erwiderte Jutta.
»Sie haben so etwas Frisches, etwas so Natürliches. Wir leben zu sehr in den Sielen. Wir sind ja alle schon verdorben.«
»Von den Sielen?« fragte Jutta.
»Von Konventionen«, entgegnete Aglaia lächelnd, »von Coiffeuren, von Gesichtschirurgen, von Schönheitsfarmen, von Modeschauen, von Sonntagspredigten und von Gesundheitsrezepten.«
»Sie auch?«
»Auch ich«, antwortete die Gastgeberin ohne Zögern. »Und eines Tages gehören Sie zu uns«, setzte sie hinzu. »Dann wird es Ihnen genauso ergehen.« Sie lachte. »Mit zwanzig kann man noch essen, was man will.«
Die Cour ging weiter.
Die Gastgeberin war beim nächsten Vorzugsgast. Jutta hatte Gelegenheit, sich in dem kerzenbeleuchteten Spiegelsaal umzusehen. Barock kannte sie von anderen Gelegenheiten, aber der repräsentative Querschnitt der Schindewolff-Gäste war neu für sie. Er entsprach wohl dem Wahn der formierten Gesellschaft, den ein inzwischen abgehalfterter Bundeskanzler gepredigt hatte.
Juttas Überlegungen gingen von soziologischen zu gesellschaftlichen Erwägungen über: Die weiblichen Gäste waren fast alle hübsch. Sie konnten es sein. Sie hatten Zeit und Geld. Die Angst vor dem Alter rang den meisten ungeheure Energieleistungen ab. Sie arbeiteten hart an Gesicht und Figur. Sie erdienten sich das Recht, gewagte Roben und wertvollen Schmuck zu tragen.
Sie waren buntschillernde Orchideen, gezogen auf Mistbeeten der Langeweile. Viele nicht einmal dumm; die Dummen nicht einmal laut, und Jutta schien es, als sei ihr Gott die Kalorientabelle und der Ehebruch ihr Tagewerk. Sie verurteilten ihn, davor und danach. Sie gingen am Sonntag zur Kirche. Nicht immer, doch meistens. Sie waren gebildet, kulturbewußt. Sie bekannten sich zum Abendland, dieser Scheußlichkeit der Geschichte. Aber sie wußten wenig von Scheiterhaufen, Folter, Pogromen und Pestilenz. Ihre Erzieher hatten es unterschlagen – oder vielleicht selbst nicht einmal gewußt, weil deren Lehrer auch schon Abendländer gewesen waren.
Jutta begegnete dem berühmten Prediger, der das Abendland von der Kanzel herunter beschwor und sich dabei von Bundeswehroffizieren schützen ließ, deren vorsorgliche Anforderung er nachträglich in Abrede stellte. Achtes Gebot: Du sollst nicht lügen. Jutta fragte sich, was es galt für einen christlichen Prediger, der mit Gott und Bonn im Frieden lebte.
Der erste würde wohl auch der letzte Empfang solcher Art sein, den Jutta besuchte, und so interessierte sie jede Einzelheit. Sie wunderte sich über Dinge, die den Anwesenden selbstverständlich waren, und fand Dinge selbstverständlich, über die sich die anderen Gäste wunderten.
Sie verfolgte, wie der Hausherr höflich zu allen und distanziert zu jedem war. Erik überging keinen Gast, aber er stellte sich gleich wieder abseits, als wollte er demonstrieren, daß er hier nur als der Zeremonienmeister seiner Frau amtiere.
Jutta merkte, daß er sie gelegentlich mit den Augen suchte. Sie nahm an, Christian sei der Grund. Ihr Begleiter trank und trank, befallen von einem Durst, der sich nur dadurch löschen ließ, daß er sein Leben auslöschte.
Erik wußte, wie sehr man sich zu Aglaias Kultur-Soireen drängte: Sie verbanden kulinarischen Genuß mit gesellschaftlicher Auszeichnung. Hier tummelten sich selbst die Außenseiter des Establishments, zumal es die Gastgeberin meisterlich verstand, jeden Anschein der Einseitigkeit zu vermeiden.
Erik widerte es an, daß sich im Salon seiner Frau die neuen Leute der Industrie mit ihren alten Herren trafen, die Konservativen mit den Fortschrittlichen, die Linken mit den Rechten, die vormals politisch Verfolgten mit ihren Verfolgern. Wer hier Gast gewesen war, hatte sozusagen den Ritterschlag der Gesellschaft empfangen – einer Gesellschaft, der die braune Diktatur, der Zweite Weltkrieg und die Besatzungskorruption längst das Rückgrat gebrochen hatten.
Widerwillig bewunderte Erik Aglaias Perfektion. Ihr Lächeln galt allen. Jeder fühlte sich von ihr ausgezeichnet, ob er nun von Rang war oder noch Novize dieses eleganten Parketts. Bonns Nähe stellte Würdenträger ab, Minister und Botschafter kamen, Manager und Funktionäre, Bankiers und Gewerkschaftler. Namen, bei deren Nennung sich sonst Mark-Millionen assoziierten, wurden hier zu kleiner Münze.
Alle hatten saubere Hemden, saubere Westen. Sie waren angefüllt mit objektivem Rechtsbewußtsein und mit subjektiver Verständnislosigkeit, so man ihnen
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