Auf dem Rücken des Tigers
erschien ihm immer mehr als ein Zirkus. Der riesige Spiegelsaal wurde zur Arena, in der sie paarweise liefen: der Kanzelredner mit dem Atheisten, der stiernackige Berufsflüchtling mit dem geschmähten Verzicht – Politiker, der Arbeiterführer mit dem Tarifgegner: Ein einig Volk von Kaviar und Gänseleber.
Je mehr Alkohol er in sich hineinschüttete, desto lebendiger wirkte sein totes Gesicht: Kaviar macht stark, dachte Christian, vor allem sexuell, und Einigkeit macht stumpf, vor allem politisch.
»Du wackelst schon«, sagte Jutta. »Herrgott, bist du betrunken.«
»Vor Zorn«, antwortete Christian.
»Du magst diese Leute nicht«, Jutta lächelte boshaft, »aber du gehörst zu ihnen.« Sie sah, daß seine Augen klein wurden und die Adern an den Schläfen wie Schnüre hervortraten. Sie hatte unter die Gürtellinie gezielt, mit Absicht. »Und den Zorn spülst du mit Whisky hinunter – da hast du deinen Protest, legst dich ins Bett und schläfst dich aus.«
»Was tust du,zum Beispiel?« fragte er.
»Einiges«, antwortete Jutta. »Ich bin zum Beispiel zu dir gezogen. Ganz offiziell. Mein Vater ist Richter. Er verwaltet Moral, Recht und Disziplin.« Ihre Lippen wurden schmal und blaß: »Wegen ihm lebe ich mit dir zusammen«, sagte sie, »nicht wegen dir.«
»Warum, ist mir egal«, versetzte Christian. »Hauptsache, du bist da.«
Die Gastgeberin blieb der Mittelpunkt, um den sich alles kristallisierte. Mit mehreren Gästen zugleich in ein Gespräch verwickelt, beobachtete sie, wie der Berufsflüchtling und der Sowjetrusse am kalten Büfett aufeinanderprallten und sich mit einem Kopfnicken aus dem Weg gingen: Herren von Welt, alle beide.
Sie sah den untersetzten Mann, der sich unauffällig auf sie zuschob, gehend wie eine rollende Kugel: Kudritzky, der Oberregierungsrat vom Verfassungsschutz, Chef der Abteilung römisch zwo.
Aglaia beorderte ihn durch ein Lächeln in ihre Nähe. Trotz seiner Kleinheit war sein Oberkörper zu groß. Ein überlanger Sakko verkürzte die Beine optisch noch mehr. Er müßte eine kurze Jacke tragen, um seine Fehlproportionen zu retuschieren, aber sie wußte, daß der tüchtige Kudritzky von ihr ganz andere Dinge erwartete als modische Ratschläge.
Sie hatten beide die Begegnung erwartet, aber für Zuschauer sah es aus, als seien sie einander, wie auf Stehparties üblich, zufällig in den Weg gelaufen. Für die meisten war Kudritzky der ›Herr vom Bundesinnenministerium‹. Wer seine wirkliche Aufgabe kannte, brauchte sie auch nicht zu fürchten, meinte Aglaia.
»Gnädigste sehen prächtig aus«, begrüßte der Beamte die Gastgeberin. Er wirkte komisch, wie ein Tanzlehrer aus der Provinz. Sein Parkett war jahrelang die Prinz-Albrecht-Straße in Berlin gewesen, und die dort exerzierten Tänze hatten einem Todesreigen geglichen.
Aglaia mochte weder den Mann noch seine Vergangenheit: Es erschien ihr, als sei sie an ihm hängengeblieben wie ein Geruch, der ihr Pariser Spezialparfum zu überlagern drohte. Aber als heimliche Arbeitgeberin von 60.000 Menschen hatte sie nicht danach zu fragen, ob ihr der einzelne sympathisch oder appetitlich genug war, ob er übel aus dem Mund roch oder eine ansteckende Furunkulose hatte. Ihre Mitarbeiter waren Werkzeuge, bezahlte sogar. Es erschien ihr noch unsinniger, sich unbezahlten ästhetischen Eindrücken zu überlassen.
Die neue Republik hatte diesbezüglich keine Fachleute, und sie brauchte sie. Die Männer von gestern hatten neben wirklich üblen Nachteilen durchaus Vorzüge: Sie waren bewährte Antikommunisten. Sie würden loyale Diener des heutigen Staates sein, weil sie die Dienste des gestrigen nicht aufgerechnet haben wollten. So jedenfalls stellten sie das Rückgrat der neuen Organisation, die hauchfein war, dehnbar und transparent: ein Präservativ, den sich die Bonner Republik überzog.
Der Vergleich erschien Aglaia wenig damenhaft, aber sie gestattete ihn sich, weil sie es für originell hielt, gelegentlich auch einmal ganz unkonventionell zu sein.
Ihr Blick suchte Christian.
»Ein merkwürdiger Mensch, Ihr Herr Schwager«, sagte Kudritzky.
»Er bringt wenigstens etwas Farbe in meinen Salon.«
»Vermutungen?«
Kudritzky merkte, daß die Frage zu beiläufig gestellt war. »Beweise«, antwortete er.
»Wollen Sie damit sagen …«
»Ich will kein Wort sagen – höchstens ein paar Bedenken anmelden. Ihr Herr Schwager«, setzte er an, »wird bei uns geführt. Er ist kein unbeschriebenes Blatt. Er finanziert eine ganze Reihe
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