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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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griff mich an den Beinen und zerrte mich in's Freie.
    Ich verlor das Bewußtsein, und dieser Zustand hielt lange an.
    Sie kam am Morgen immer als erste, kurz vor sieben Uhr. Ich fieberte ihren Schritten entgegen und richtete mich ungeduldig in meinem Bett auf.
    Ich hatte mir angewöhnt, mit den Ohren zu sehen.
    Ich war blind.
    Ich spürte instinktiv, daß die Verletzungen an Oberschenkel und Oberarm geheilt sein mußten. Ich überlegte, was einem Blinden das Leben noch bieten konnte. Es war mehr, als man denkt. Aus Hoffnung und Illusion baute ich mir eine neue Welt zusammen.
    Wirklich an ihr war am Morgen nur mein Glied; es stand wie eine Eins.
    Meine Ärzte beteuerten, daß ich bald wieder sehen könne. Aber das behaupten sie wohl immer in einem solchen Fall: »Nur Geduld!« Oder: »Wir kriegen Ihre Augen schon wieder hin.« – Und dann flüsterten sie miteinander.
    Sie standen vor mir.
    Ich spürte ihren Blick noch durch meinen dicken Kopfverband.
    »Wie geht's uns heute?« fragte sie, rauh, heiser – eine Krankenschwester mit der Stimme eines Barmädchens. Diese Stimme machte uns, die Blicklosen der Station III, süchtig. Viele Patienten rafften sich wieder zu stummen Heiratsanträgen an Schwester Anita auf. Nahezu alle schliefen im Traum mit ihr.
    Meine Erzieher hatten behauptet, die Gier mache blind; jetzt erlebte ich, wie die Blindheit die Gier aufputschte.
    Es war das zweite oder dritte Lazarett seit den Vorgängen in der Feldscheune. Irgendwo war ich zu mir gekommen wie ein Kumpel nach der Schlagwetterexplosion. Ich lag verschüttet in einem Schacht und hörte, daß draußen gehämmert wurde. Es gab Minuten, da antwortete ich ihnen – wenigstens in Gedanken – mit Klopfzeichen. Es gab Stunden, da raunte mir die Müdigkeit zu: Stell dich tot, schlaf ein, wach nicht mehr auf – es ist das beste.
    Ich konnte nichts sehen, doch nach einer Weile merkte ich, daß es nicht an der Dunkelheit im Schacht lag. Als ich mir das gestand, endete die Stille auf der Matratzengruft.
    Ich lag hundertmal auf dem glühenden Rost. Ich sah wieder, wie sich der tote Molitor vor der Hitze noch einmal aufbäumte, als wollte er von den Toten auferstehen. Die Flammen mußten ihn längst gefressen haben, aber ihn sah ich immer wieder – vielleicht nur, weil er so schrie, und das war falsch, denn Tote schreien nicht.
    Erst allmählich begriff ich, daß nicht er es war, sondern deutsche Verwundete und russische Partisanen, und ich wunderte mich, daß sie in der gleichen Sprache ihren Tod hinausbrüllten.
    So lag ich nun in befristeter Nacht, eingewoben in eine Wolke von Sterilität, umhegt von Anita, der Schwester mit der aufreizenden Stimme. Sie las mir die Briefe vor, die täglich von meiner Mutter eingingen, in denen sie mir fast mit den gleichen Worten immer wieder beschrieb, wie gut es ihr gehe.
    Bei mir war die Mutter zugleich Vater, denn dieser war gleich nach meiner Geburt bei einem Unfall umgekommen. So jedenfalls hatte es mir Mutter berichtet, und daran glaubte ich, denn ich konnte mich nicht erinnern, sie je bei einer Unwahrheit überrascht zu haben. Wir hatten zurückgezogen in einer Parkgegend in Bamberg gelebt; mir wäre das Stadtviertel der Straßenjungen lieber gewesen, aber zu Hause war ich ohnedies nicht viel, und dann wurden mir als Mitglied der Staatsjugend alle diesbezüglichen Wünsche erfüllt.
    »Wie lange muß ich den verdammten Verband noch tragen, Schwester Anita?«
    »Das geht nicht von heute auf morgen«, antwortete sie.
    »Von heut' auf morgen ist gut – von Mai bis November dauert das schon.«
    »Ihre Mutter hat geschrieben«, wehrte sie sanft ab.
    Anita war so nahe am Bett, daß ich ihre Haare riechen konnte.Wenn ein Sinnesorgan ausfällt, arbeiten die anderen verstärkt. Ich horchte Anitas Untertönen nach, bastelte mir aus stimmlichen Nuancen ihr Gesicht zusammen, setzte einen Körper hinzu und begann ihn zu streicheln.
    »Sind Sie eigentlich blond?« fragte ich sie.
    »Sie werden es erwarten können«, erwiderte sie lachend.
    Sie mußte jung sein, von ihren Patienten umworben, vom Leben verwöhnt; es würde wohl ein fürchterlicher Konkurrenzkampf werden, aber ich war zu allem entschlossen.
    Ich begann mit ihr zu schlafen, voller Zorn, daß ich nicht der einzige war.
    »… bis dahin weiß ich dich in guten Händen«, verlas Anita den Brief meiner Mutter weiter, »ich folge dem Wunsch deiner Ärzte, dich erst zu besuchen, wenn der Verband abgenommen ist: Also auf bald. In

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