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Auf dem Rücken des Tigers

Auf dem Rücken des Tigers

Titel: Auf dem Rücken des Tigers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Liebe …«
    »Tut das weh?« fragte ich.
    »Was?«
    »Wenn ihr mir die Scheißbinden …«
    »Seit wann sind Sie denn zimperlich?« fragte die Schwester.
    Sie entfernte sich, ging in den nächsten Raum und überließ mich ohnmächtiger Eifersucht.
    So verbrachten wir unsere Tage und Wochen, und wenn Anita fehlte, da wußten wir, daß Mittwoch war. Der freie Tag unserer Lieblingssamariterin war längst der Orientierungspunkt unserer blinden Welt.
    Schwester Paula vertrat sie; ihr fehlte vor allem Anitas Stimme. Sie gab sich sicher Mühe mit uns, aber ich hatte immer die Empfindung, als geschähe alles im Laufschritt, als habe sie nie Zeit, als sei sie mit den Beinen noch im Krankenzimmer und mit den Gedanken bereits bei einem Rendezvous.
    »Sie haben Post«, sagte sie und setzte sich an mein Bett.
    Ich hatte seit Tagen von Mutter nichts mehr gehört, hätte aber den Empfang eines Briefes doch gerne um einen Tag verschoben, um mir von Anitas Stimme Mutters Zeilen übersetzen zu lassen.
    »Mein Gott …«, sagte die Pflegerin an meinem Bett.
    »Was ist?«
    »Es ist … es ist …«
    »Was ist?« wiederholte ich scharf und merkte, wie das Entsetzen auf mich zukam. »Ist etwas … mit Mutter?«
    »Ja«, antwortete Schwester Paula.
    »Sie ist – tot …?«
    »… bei einem Luftangriff auf Frankfurt«, erwiderte sie und wollte flüchten.
    Ich weiß nicht, was mit mir geschah.
    Ich fuhr Achterbahn, drohte aus dem Wagen zu kippen und hatte keine Kraft, mich festzuhalten. Ich schoß im Sturzflug nach unten, erreichte die Kurve und wurde von der Zentrifugalkraft hinausgepreßt.
    Mutter tot.
    In Frankfurt.
    Bei einem der ersten Luftangriffe.
    Was hatte sie auch in Frankfurt zu suchen, sagte ich mir sinnlos und zornig, aber sie konnte ja nicht wissen, daß sie in den Tod führe, sowenig die dumme Bombe wissen konnte, was sie mir nahm, als sie Mutter erschlug.
    »Sind Sie wahnsinnig?« fuhr eine barsche Stimme Schwester Paula an.
    »Bitte – Herr Assistenzarzt …«, erwiderte sie.
    »Wir sprechen uns noch.« Ich spürte seinen Blick durch meinen Verband. Als hätte er es gemerkt, brach er ab. Ich horchte dieser Stimme nach. Ich kannte sie. Ich hatte sie schon einmal gehört. Als ich mich wie ein Seiltänzer auf sie stellte und zurücklief – Tage, Wochen, Monate –, begann die Erde zu schaukeln und die Haut in meinem Gesicht zu brennen.
    »Wer sind Sie?« fragte ich.
    »Assistenzarzt Dr. Müller«, entgegnete er.
    ›Ich und du, Müllers Kuh‹, dröhnte es in meinen Ohren, ›Müllers Esel, das bist du …‹
    »Warum haben sie meine Mutter ermordet?« fragte ich; dann spürte ich einen Druck am Handgelenk: Einer nahm mich vom Hochseil und stellte mich behutsam auf die Erde.
    »Sie haben mich in der Feldscheune durch einen Gegenstoß herausgeholt – damals?«
    »Ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze«, antwortete Dr. Müller, alias Dr. Eisenbart. »Sie werden einschlafen, und …«
    »Sie haben mir also das Leben gerettet …«, sagte ich gereizt.
    Ich spürte den Einstich in die Vene. »Wozu eigentlich?« fragte ich und spürte noch, wie vorsichtig er mir Vergessen injizierte.
    Zuerst nahm ich nur an, ich sei sein Paradepatient, aber dann merkte ich von Visite zu Visite, daß wir dabei waren, Freunde zu werden. Ein Blinder sieht viel intensiver und hat das absolute Gehör für Zwischentöne. Schwere Verluste rasch zu überleben, hatte meine Generation beizeiten gelernt. Mutter war tot und der kleine Molitor war tot und die ganze Kompanie war tot. So lange der Krieg lebte, würden sie nach und nach alle sterben, es sei denn, sie legten sich eine verbrannte Fresse zu. In einem solchen Fall bleibt der Verwundete länger im Lazarett, denn Hauttransplantationen sind eine langwierige Sache.
    Allmählich erfuhr ich, wie es um mich stand. Ich war über mehrere Stationen hinweg in ein Spezialkrankenhaus für Gesichtsverletzte gelangt. Es lag in einer idyllischen Stadt im bayrischen Schwaben, aber meine Mitpatienten und ich hatten wenig Aussicht, ihre verwinkelten Gassen und idyllischen Plätze näher kennenzulernen. Es lag weder im Sinn des Chefarztes, noch im Sinn der Zeit, daß die Kinder auf der Straße bei unserem Auftauchen schreiend auseinanderliefen.
    Assistenzarzt Müller wurde für mich Wolfgang, der Freund.
    Als er mich aus der brennenden Scheune geborgen hatte war er dabei selbst verletzt worden. Wir hatten ein paar Wochen im gleichen Feldlazarett zugebracht. Nach seiner Genesung war Müller vom Chefarzt,

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