Auf dem spanischen Jakobsweg
Schäfer mit seiner alten Mutter
gelebt, so treffen wir heute kein einziges Lebewesen mehr an. Dennoch ist es
immer noch leicht, die alte Pilgerstraße, die sich durch den ganzen Ort zog,
auszumachen. Nicht mehr erkennbar ist allerdings, dass Foncebadón in der alten
Zeit einige Bedeutung hatte. Schon der Name des Ortes, entstanden aus Ponce
Abbad, geht zurück auf einen Abt von Cluny: Ponce de Melgueil, ein Adliger aus
Burgund, Freund und Berater von Papst Calixtus IL, der ebenfalls aus dem
Hochadel von Burgund kam und im Jahre 1122 mit Kaiser Heinrich V. im Wormser
Konkordat den Investiturstreit beilegte. Gegen viele Widerstände in Rom. So
musste denn auch nach dem Tod dieses Papstes sein Vertrauter Ponce de Melgueil
in den Verliesen des Vatikans seinem Tod entgegenvegetieren, einsam und von
allen Freunden verlassen.
Foncebadón,
durch dessen Ruinen wir jetzt laufen, hatte im 11. Jahrhundert auch schon ein
Hospiz für jene Pilger, die die unwegsamen Berge überqueren wollten. Auch zwei
Kirchen standen etwas später in diesem Ort und aus Astorga ließ sich eine
Gemeinschaft von Einsiedlern nieder. Sogar ein Provinzialkonzil soll hier
einmal getagt haben. Durch mannshohes, verdorrtes Gras führt unser Pfad weiter
aufwärts, links wieder ein paar Häuserruinen, rechts eine Quelle mit
Trinkwasser. Dann aber erscheint plötzlich, wir haben die Anhöhe schon fast
erreicht, vor uns ein Berg von Steinen, auf dem eine hohe Holzstange errichtet
ist, die an ihrer Spitze ein einfaches Kreuz aus Eisen trägt. In wenigen
Minuten stehen wir vor einem Emblem des Jakobsweges, dem „Cruz de Ferro“.
Wahrscheinlich wurden schon in der Zeit der Römer hier Steine aufgehäuft. Auf
jeden Fall aber legen hier seit tausend Jahren die Jakobspilger ihre Sorgen ab,
symbolisiert durch Steine, die sie
von weit her, oft schon von zu Hause, mitgebracht haben. Manche haben große
Steinbrocken, also große Sorgen, herauf geschleppt. Wie viele Millionen Steine
mögen hier liegen? Wieviel Kummer aus wieviel Ländern mag hier abgelegt worden
sein? Wenn dieser Berg stöhnen, all die Schmerzen hinausschreien würde, die in
seinem Innern stecken, dann würde Jakobus dies wohl noch in seinem Schrein in
Santiago hören können. Wie viele Schicksale, wieviel Trauer und Schmerz,
Hoffnung und Verzweiflung, Zuversicht und Sorge stecken in diesen Steinen? Wenn
dieser Berg die ihm anvertrauten Geschichten und Tragödien erzählen würde,
müssten wir bis ans Ende der Zeiten hier in seinem Schatten sitzen und zuhören
— und er wäre dann immer noch nicht ans Ende gekommen.
Ich lege
meinen kleinen Stein und die Sternchen, die mir meine Frau und meine Kinder
mitgegeben haben, auf den großen Berg und bete dafür, dass niemand von uns
jemals einen großen Stein hierher schleppen muss. Dann mögen unsere kleinen
Steine hier noch liegen und von anderen
zugedeckt sein, wenn wir selbst schon lange keine Sorgen mehr haben.
Nach etwa
einer halben Stunde wandere ich weiter, teils auf dem schmalen Asphaltsträßchen,
teils über gewundene Trampelpfade, durch Ginsterbüsche, die über meinen Kopf
hinausragen, dann wieder durch Heidekraut, Wacholder und verkrüppelte Kiefern.
Nach Westen hin weitet sich der Blick auf die wohl mehr mit Buschwerk bedeckten
blauen Berge, ein langer Höhenzug, der dem fruchtbaren Bierzo vorgelagert ist.
Gelegentlich komme ich an Hausruinen vorbei, dann an einem kleinen,
aufgegebenen Friedhof, eingefriedet noch immer von einer Mauer aus
Natursteinen. Schließlich stoße ich erneut auf Ruinen, Mauerreste, zwischen
denen zwei Kühe grasen und vor denen ein mit blauer Farbe bestrichenes
Holzkreuz steht, auf dem allein der Name „Eva“ zu lesen ist. Tod einer
Pilgerin? Und wann und warum? Ich werde es wohl nie erfahren. Kurze Zeit später
taucht auf der rechten Seite das schon im Jahre 1964 verlassene Dorf Manjarín
auf, wo heute noch eine sehr einfache, kleine Notunterkunft von einem Mann
betrieben wird, der eigentlich nach Santiago pilgern wollte, aber, einem
Eremiten gleich, dann hier in der Bergeinsamkeit hängen geblieben ist, um
Pilger zu betreuen. So hatten auch einmal Santo Domingo am Ufer des Oja und San
Juan de Ortega in den unzugänglichen Oca-Bergen begonnen. Aber das war schon
vor neunhundert Jahren.
Einige Zeit
später verlasse ich die Asphaltstraße und wandere über einen schmalen steinigen
Pfad weiter. Zwischen graublauen Felsbrocken, die eine schiefrige Struktur
haben, glüht in der Spätsommersonne wieder das
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