Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf dem spanischen Jakobsweg

Auf dem spanischen Jakobsweg

Titel: Auf dem spanischen Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Dannhäuser
Vom Netzwerk:
Glut und Licht, für Ausgedorrtsein und
Einsamkeit. Metapher auch für eine Stille, die man fühlen und sehen kann, für
eine Stille auch, deren innere Stimme man zu hören glaubt.

    Auf meinem
weiteren einsamen Weg über die Hochebene komme ich an ein großes, bereits
umgepflügtes Getreidefeld. Und, nahe am Rand meines Weges, steht in dieser
braungebuckelten Wüste plötzlich eine einzelne, kleine Sonnenblume und strahlt
mich an. Natürlich kann das keine
echte Sonnenblume sein, hier, wo die Pflugscharen sogar schon alle übriggebliebenen
Getreidestoppeln unter der ausgedorrten Erde begraben haben. So bin ich davon
überzeugt, dass es sich um ein künstliches Gebilde, eine Kunstblume handeln
muss, die ein Vorübergehender vielleicht aus Spaß, vielleicht auch aus
ästhetischem Empfinden, in die braune, trockene Erde gesteckt hat. Aber trotz
meiner festen Überzeugung: ganz in Ruhe lässt mich die Sache doch nicht. So
stolpere ich über die Ackerschollen und greife nach diesem Trugbild. Und
erschrecke fast, als ich feststelle, dass diese Blume echt ist, dass es
wirklich eine Blume ist, die lebt und festverwurzelt in der harten Erde der
Meseta steckt.
    Auf meiner
nachfolgenden Wanderung gehen mir ein paar Gedanken durch den Kopf. Diese
Sonnenblume, von der ich annahm, dass es sich um ein Trugbild handelte, ist ja
nicht dadurch echt geworden, dass ich nach ihr gegriffen, dass ich sie als
wirklich, als real existierend begriffen habe. Sie war das alles schon vorher.
Wäre zwischen ihr und mir ein für mich unüberwindlicher Wassergraben gewesen, so,
dass ich sie nie hätte anfassen, nie hätte begreifen können, so hätte dies an
ihrer Echtheit nichts geändert, ich aber wäre dann für alle Zeiten einem Irrtum
unterlegen gewesen.
    Ist es
vielleicht so, dass wir all das, wonach wir nicht greifen und was wir somit
auch nicht begreifen, nicht beweisen können, deshalb für nicht existent, für
ein Trugbild halten? Leugnen wir Gott ganz oder lassen ihn allenfalls zu einer
mathematischen Formel verkommen, nur weil wir nicht mit unseren Händen nach
seinem Mantelsaum greifen können? Weil wir nicht über diesen Wassergraben
hinwegkommen und uns mathematische Gewissheit, diese Sehnsucht neuzeitlicher
Philosophen, wie Hans Küng sich ausgedrückt hat, verschaffen können? Unsere
Sehnsucht, diesen Wassergraben mit unseren Messinstrumenten überschreiten und
alles begreifen zu können, wird nie in Erfüllung gehen. Aber engen wir uns
nicht ein, wenn wir deshalb all das, was jenseits des Grabens sein könnte,
einfach leugnen, oft mit einem Eifer, der mehr Angst verrät als Erkenntnis?
Wäre es nicht weniger engstirnig, die Möglichkeiten jenseits des Grabens offen
zu lassen? Läge dann in diesem Offenlassen nicht sogar die Chance zu einem
Brückenschlag, der über mathematische Formeln weit hinausreicht?
    Beim
Weitergehen fällt mir ein altes chinesisches Märchen ein, das schon Peter
Müller in seinem Buch über den Jakobsweg erzählt hat:
    Ein Salzmännchen hatte eine
weite Wanderschaft durch trockene Gegenden hinter sich und kam an das Meer, das
es noch nie gesehen hatte. Es blieb am Ufer stehen und sah die fremde, bewegte
Oberfläche. Auf die Frage, was das denn sei, erhielt es zur Antwort: „Ich bin
das Meer.“ Das Salzmännchen fragte weiter: „Was ist das denn, das Meer?“ Das
Meer antwortete ihm: „Das bin ich!“ Da sagte das Salzmännchen: „Das kann ich
nicht begreifen, obwohl ich es gerne möchte. Ich weiß nur nicht wie.“ Da sagte
das Meer: „Berühre mich, dann wirst du mich begreifen.“ Das Salzmännchen
bewegte den Fuß abwärts und berührte das Meer. Und dabei hatte es den seltsamen
Eindruck, das fremde Wesen würde erkennbar. Das Salzmännchen zog seinen Fuß
zurück und sah, dass seine Zehen verschwunden waren. „Was hast du gemacht?“
schrie es entsetzt. Da antwortete das Meer: „Du hast etwas hergeben müssen, um
mich begreifen zu können.“
    Nach und nach löste sich das
Salzmännchen im Meer auf. Zugleich hatte es den Eindruck, das Meer immer besser
zu begreifen.
     
    Ja, wenn wir
von unserer geistigen Erstarrung, von unserer dem Salzmännchen ähnlichen
Vorgeformtheit ein Stückchen hergeben würden, dann könnten wir vielleicht auch
etwas von der Größe jenes ganz anderen Ozeans erahnen.
    Nach einem
Fußmarsch von etwa zehn Kilometern bricht das tischebene Plateau abrupt ab.
Weil es auf der anderen Seite des Taleinschnitts gleich wieder steil nach oben
und genau auf gleicher Höhe wie

Weitere Kostenlose Bücher