Auf dem Weg nach Santiago
so, wie Jean de Tournai nach schweren Erlebnissen auf
dem Weg es liebt: vor »einem bereitstehenden Abendessen mit prächtigen gebratenen
Kapaunen«. 32
Die Pilger aus Aurillac überqueren die
Garonne weiter flußaufwärts; doch ist auch diese Überfahrt eine Liedstrophe
wert:
Quand fuguerem proch en Bordaiga
Calg aventurar subre mai d’aiga.
Jes, pecaire que devendrem
Se san Guiral non noi defend?^ 3
Als wir nah bei Bordeaux waren,
Mußten wir uns auf ein großes Wasser
wagen.
Jesus, wir Armen, was soll aus uns
werden,
Wenn Sankt Gerald uns nicht schützt?
Manche Wallfahrer ziehen es vor, die in
gewissem Sinne natürlichen Gefahren der Flüsse auf sich zu nehmen, anstatt sich
auf die großen, von Banditen umlagerten Wege zu wagen. Man kann so den Rhein
hinauf- und dann die Rhone hinunterfahren; man kann sich in Bordeaux
einschiffen und die Garonne flußaufwärts segeln, um nicht die Landes durchqueren
zu müssen und bei Bazas den Weg von Vézelay und Limoges zu erreichen. Der
Reiseweg der Pilger aus Senlis kennt eine andere Variante: »Man schifft sich in
Bordeaux auf der Garonne ein, dann geht es an Podensac und Cadillac (die sich
gegenüberliegen) vorbei nach Saint-Machaire gegenüber Langon; am anderen Ufer
liegt Bazas .« 34 Im 18. Jahrhundert kann man
von Lyon auf einem durch zwei Pferde von der Uferböschung aus gezogenen Boot in
zwei Tagen Avignon erreichen. 35
Ob die Wallfahrer aber nun auf Flüssen
oder Straßen daherkommen, auf jeden Fall müssen alle über die Pyrenäen. Das ist
die enge Pforte der Wallfahrt.
Für den Priester Domenico Laffi aus
Bologna und seinen Freund, den Maler, ist das Gebirge nichts Neues; sie haben
ja schon den Mont-Cenis-Paß überschritten. Die Überquerung des Aubracgebirges
wird für die Pilger aus Le Puy zuweilen zu einer regelrechten
Hochgebirgsetappe. In Spanien kann der Paß von El Cebrero, westlich von Leon,
große Schwierigkeiten bereithalten; hier war es, wo Jean de Tournai die heftigsten
Schneestürme des Winters 1489 erlebte — es stimmt allerdings, daß er nicht auf
die bessere Jahreszeit hatte warten wollen: »Wir gerieten bis zu den Knien in
den Schnee. Manchmal steckten wir sogar bis zu den Hüften darin. Wir faßten
einander an den Pilgerstäben, so gut wir konnten, und halfen uns so durch .« 36 Auf der spanischen Seite von Roncesvalles
droht dem kleinen Bonnecaze die zwangsweise Einziehung in die Armee; also
flieht er wieder einmal, diesmal »durch den Schnee bis zu den Knien«, und er muß
mehrere Nächte unter freiem Himmel verbringen. 37
Die Pilger der Südroute überqueren die
Pyrenäen am Somportpaß, die der anderen drei Pilgerwege am Ibañetapaß oder am
Cizepaß. Gerade hier ist der Pilger dem Willen Gottes ausgesetzt. Maßlosigkeit
der Natur und Maßlosigkeit der Wallfahrt selbst entsprechen sich in dieser
wilden Gegend: »Der Weg nach Santiago verläuft über einen ragenden Berg,
Port-de-Cize genannt. [...] Man muß achttausend Fuß hinauf- und ebenso viele
wieder hinuntersteigen. Tatsächlich ist dieser Berg so hoch, daß es scheint, er
berühre den Himmel; wer hinaufsteigt, könnte meinen, den Himmel mit der Hand zu
betasten.« Wer hat nicht schon davon geträumt, den Himmel zu berühren?
»Auf dem Gipfel dieses Berges«, so
erzählt Aymeri Picaud weiter, »errichtete Karl der Große auf seinem Weg nach
Spanien symbolisch das Kreuz des Herrn, dann beugte er die Knie und betete gen
Spanien gewandt zu Gott und zum heiligen Jakobus. Daher haben die Wallfahrer an
dieser Stelle die Gewohnheit, niederzuknien und zum Land des heiligen Jakobus
hin zu beten; jeder steckt dann sein Kreuz wie eine Standarte in den Boden .« 38
Eine gewisse Kategorie von Wallfahrern
umgeht diesen berühmten Paß. Es sind jene, die den Seeweg nehmen. Sie haben
nicht unbedingt den besseren Teil gewählt, denn die Schiffe sind recht
notdürftig ausgestattet. Im 12. Jahrhundert kennt man das Kielruder noch nicht;
faktisch wird nur mit Rückenwind gesegelt; zum Navigieren benutzt man einen
kleinen Wasserkessel, auf dem ein mit einer Nadel versehener Strohhalm
schwimmt; die Nadel wurde zuvor an einem Magnetstein gerieben.
Das Lied der englischen Wallfahrer läßt
keinen Zweifel daran, daß den Pilger vor dem Einschiffen nach Spanien
Befürchtungen befallen:
Il ne faut plus penser à rire
Quand on s’embarque pour Saint-Jacques
Pour beaucoup c’est une douleur
De commencer à naviguer.
Dès que l’on monte à bord
A Sandwich, à
Weitere Kostenlose Bücher