Auf dem Weg nach Santiago
Gastlichkeit gegenüber den Armen. Wenn sie ums Feuer
sitzen, essen sie für gewöhnlich ohne Tisch und trinken alle aus demselben
Becher. Sie essen viel, trinken tüchtig und sind schlecht gekleidet; sie
scheuen sich nicht, gemeinsam auf einem dünnen, verfaulten Strohsack zu
schlafen, Knechte mit Herr und Herrin zusammen .«
Die baskischen Fährleute und
Straßenzöllner bringen Aymeri Picaud in Zorn; er wünscht sie zum Teufel und überhäuft
sie mit Schimpfwörtern. Die Navarresen müssen dafür büßen — trotz des Versuchs
einer unparteiischen Beschreibung.
»Die Leute in Navarra«, so beginnt er,
»tragen schwarze und kurze, bis zu den Knien reichende Kleidung nach der Art
der Schotten; sie haben Schuhe, die sie lavarcas nennen, aus ungegerbtem
Leder, an dem noch das Fell hängt, und binden sie um ihre Füße mit Bändern;
doch nur die Fußsohle ist bedeckt, der Rist bleibt frei. Sie tragen einen
Mantel aus dunkelfarbiger Wolle, der bis zum Ellbogen herabfällt und wie eine
Kapuze gesäumt ist; sie nennen ihn saie. Diese Leute sind schlecht
gekleidet und essen und trinken schlecht; bei den Bewohnern von Navarra essen
alle Hausbewohner, Herr und Knecht, Herrin und Magd, aus demselben Topf, und
zwar mit den Händen ohne Löffel, und alle trinken aus demselben Becher .«
Kleidung, Essen und Trinken — die Art
und Weise, den Fremden zu entdecken, hat sich kaum geändert, und dieser kalte,
hochnäsige Blick ist heute noch unter vielen Touristen verbreitet, die nicht,
wie Picaud, die Entschuldigung haben, wirklich zivilisierte Menschen zu sein.
Unser Pilger sitzt mit dem ruhigsten Gewissen mit den Navarresen bei Tisch:
»Wenn man sie beim Essen betrachtet, hat man den Eindruck, Hunden oder
Schweinen zuzusehen, wie sie gierig ihren Fraß verschlingen .« Überdies ist ihm ihre Sprache unverständlich: »Man könnte glauben, bellende
Hunde zu hören .«
Über die Leute von Navarra wird nicht
viel Freundliches gesagt — sie sind so »anders«. Immerhin räumt Aymeri Picaud
ein, sie seien gute Krieger, wenn auch nicht »beim Erstürmen von Festungen«;
auch seien sie tüchtige Speerjäger und pünktliche Steuerzahler. Man muß also
vermuten, daß unserem Reiseführer bei ihnen einige Überraschungen zuteil
wurden, denn plötzlich wird er aggressiv:
»Es ist ein barbarisches Volk. Es
unterscheidet sich von allen anderen Völkern durch seine Bräuche und seine
Rasse, voller Bosheit, von dunkler Hautfarbe, häßlich, ausschweifend,
verdorben, falsch, treulos, verkommen; sie sind Lüstlinge und Säufer, in jeder
Art Gewalttätigkeit erfahren, wild und unbarmherzig, ehrlos und verlogen,
gottlos und von rauhen Sitten, gewaltsam und streitsüchtig, unfähig zu
jeglichem guten Gefühl, auf alle Laster und Schlechtigkeiten aus. Dieses Volk
gleicht den Zigeunern und den Sarazenen durch seine Schläue und ist auf jeden
Fall der geschworene Feind unseres fränkischen Volkes. Der Baske und der
Navarrese tötet, wenn er kann, für einen einzigen Sou einen Franken .«
Und als bewege sich sein Opfer noch,
gibt ihm Aymeri den Todesstoß mit der Bemerkung: »Wenn in gewissen Gebieten
ihres Landes, im Baskischen und in Álava, die Navarresen sich wärmen, entblößt
der Mann vor der Frau und die Frau vor dem Mann das, was sie verbergen sollten.
Die Navarresen treiben schamlos Unzucht mit den Tieren; man erzählt, daß der
Mann aus Navarra seinem Maultier und seiner Stute einen Verschluß anlegt, um zu
verhindern, daß ein anderer als er mit ihnen seine Lust habe. Die Frau wie das
Maultier sind seinen Ausschweifungen ausgeliefert .«
Schlußfolgerung: »Darum verwerfen kluge
Leute die Navarresen .« Welch ein Unterschied zum
Poitou! »Das ist ein Land voller Fruchtbarkeit, hervorragend in allem und
wahrhaft glücklich .« Nach Aymeris Auffassung sind die
Menschen des Poitou kräftige Leute und gute Soldaten, geschickt in der
Handhabung des Bogens, der Pfeile und der Lanze im Krieg, mutig an der Front,
sehr gute Läufer; sie kleiden sich mit Eleganz, ihr Gesicht ist ebenmäßig,
geradezu schön, sie sind offen für Geistiges, sehr hochherzig, großmütig in der
Gastfreundschaft.« 29 Aymeri Picaud weiß, wovon er spricht; er ist ja
selbst aus dem Poitou.
Chauvinismus, Lokalpatriotismus und
Pauschalurteil wurden von jeher durch die Sprachschranken noch verstärkt. Wer
wie Picaud, Laffi und Jean de Tournai lateinisch sprechen kann, vermag sich
wenigstens bei den Pfarrern, Mönchen und Herbergspförtnern verständlich zu
machen —
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