Auf dem Weg nach Santiago
dreißig,
Teils Wallonen, teils Deutsche.
Oder:
C ‘est de cinquante pèlerins
Qui s’en vont à Saint-Jacques.
Es sind rund fünfzig Pilger
Die nach Santiago ziehen.
Oder auch, wie die Wallfahrer aus den
Landes:
Nous n‘erem bin ou trente
De chacum soun pèis.
Wir waren zwanzig oder dreißig,
Jeder aus seiner Gegend.
Es kommt vor, daß die Gruppen sich beim
Aufbruch bilden. So etwa die Pilger aus Aurillac oder jene, die alljährlich
Anfang Februar Pistoia bei Florenz verlassen, um noch vor dem 25. Juli zurück
zu sein und das Fest des heiligen Jakobus zu Hause feiern zu können. In den
Archiven von Aragonien findet man Hinweise auf Geleitbriefe für eine Gruppe aus
Senlis, für eine andere aus Italien.
Als die Straßen sicherer waren und
besser mit Herbergen versorgt, zögerte man nicht mehr, allein zu pilgern. Jean
de Tournai und Laffi haben keine Reisegefährten, Manier und Bonnecaze nur je
drei. Da ist aber auch etwas Wesentliches von jener großen Volksbewegung
verlorengegangen, von jenem heiligen Eifer der Armen Gottes, die nur als große
Masse existierten; noch heute ist eine Gemeinschaft etwas ganz anderes als die
Summe von einzelnen, aus denen sie sich zusammensetzt. Die Zeit ist aber
vorbei, da sich der einzelne in erster Linie von der Gemeinschaft her verstand,
zu der er gehörte.
Wie viele Pilger machen sich jährlich
auf den Weg nach Compostela? Wir haben darüber nicht die kleinste sichere
Angabe. Man kann nur versuchen, sich die vielfältige Schar der Pilgernden und
Hoffenden vorzustellen, hier auf den Wegen nach Santiago, in Kleidern aus
grober Wolle, zahlreich wie die Sterne oder der Sand am Meer; die Metaphern
geben uns mangels genauer Statistiken ein Bild davon, aber eben nur ein Bild.
Zwar enthalten die Herbergs- und Kanzleiregister detaillierte Angaben; es wäre
aber gewagt, daraus allgemeingültige Schlußfolgerungen zu ziehen.
Jedoch kann man versuchen, das
Alltagsleben des Pilgers lebendig werden zu lassen, wie er betet oder ißt,
Wasser sucht oder Mädchen, Psalmen singt oder im Chor das Paternoster
rezitiert.
Parmi les monts et prairie
Nous chantions la litanie.
Sangen wir die Litanei.
Zwischen Bergen und Wiesen
So heißt es im »Lied der Nachtigallen«.
Die Litanei, von der es spricht, ist hier kein Gebet. Und doch ist es das
Gebet, das die Wallfahrt von jeder anderen Art der Wanderung unterscheidet. Die
Pilger lieben jene langen Nachtwachen, um die Reliquien in den Heiligtümern am
Wege geschart, auf dem Stroh in der Kirche hockend; hier bringen die Müdigkeit
des Tages, das Licht der Kerzen und der Duft des Weihrauchs das
unaussprechliche Geheimnis Gottes in fast vertrauliche Nähe. Den Kopf voller
Legenden und Wunder, die Reste der Heiligen aus nächster Nähe verehrend, ist
der Pilger nicht mehr in dieser Welt. Er ist anderswo.
Die Fähigkeit, extreme Gefühle zu
erleben und von einem Augenblick zum anderen die Stimmung zu wechseln, die
heftige Glut des Glaubens, das selbstvergessene Verlangen nach Heil, das
völlige Fehlen dessen, was wir geistige Schamhaftigkeit nennen würden — alles
das macht die mystische Ekstase auch dem einfachen Gläubigen zugänglich. König
Ludwig VII. hat sich in der Basilika von Saint-Denis in aller Öffentlichkeit
mehr als einmal zu Boden geworfen. Und Sankt Bernhard, der strenge Abt von
Clairvaux, betet in der Mitte des 12. Jahrhunderts: »Ich grüße dich, Jesus, den
ich liebe. Du weißt, warum es mein Verlangen ist, mich an dein Kreuz zu hangen.
Gib dich mir! Von diesem Kreuz herunter, an dem du da oben hängst, sieh auf
mich, mein lieber Herr! Zieh mich ganz an dich und sage mir: ›Ich heile dich,
ich vergebe dir !‹ In einem glühenden Aufschwung der
Liebe umarme ich dich, ganz rot vor Scham!« 14
Der Gang des Pilgers ist eine
elementare und ursprüngliche Form der Buße, ein ständiges Beten, um so
verdienstlicher, als es schmerzt. Einige verstärken übrigens diese Pein, indem
sie wie Bona aus Pisa ein Büßerhemd anlegen und unter den Kleidern auf der Haut
eine schwere Kette um die Hüften tragen. Die durch Blanzac in der Charente
ziehenden Pilger versäumen es nicht, ihre Finger so lange an einem bestimmten
rauhen Stein zu reiben, bis das rohe Fleisch bloßliegt: Mit der Haut der
sündigen Hand gehen auch die Sünden weg.
Wir wissen nicht, ob Laffi seine
tägliche heilige Messe hat lesen können; Jean de Tournai seinerseits wohnt ihr
jeden Tag bei, denn sein Gefährte, Sire
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