Auf den Inseln des letzten Lichts
Zweifel«, sagte Tanvir, setzte sich wieder hin und begann die zweite Orange zu schälen. »Und sogar das mit der Spinne traue ich ihm zu. Sie hat den unglücklichen Knaben gebissen, als er Unterwäsche aus seiner Kommode nahm.«
»Aber warum? Er war doch schon da.«
»Damit er kein zweites Mal kommt. Und damit er zu Hause allen davon abriet, die Insel zu besuchen.« Tanvir holte ein Messer aus der Schrankschublade und schnitt die Orangenschnitze in kleine Stücke. »Sie können sich dort die Hände waschen, wenn Sie wollen.« Er zeigte auf eine Stelle neben der Tür, wo über einem Plastikbecken ein runder Blechtank befestigt war, aus dem ein Hahn ragte.
Megan stand auf und ließ Wasser über die klebrigen Finger laufen. »Erhält IPREC viel Geld von dieser Stiftung?«
»Eine ganze Menge. Jedenfalls genug, um Capricorn-Tag zu rechtfertigen.«
Megan drehte den Hahn zu, trocknete die Hände an der Hose ab und sah sich die mit Lagen von Zetteln und Fotos und Postkarten beklebten Schranktüren an. MONKEY DOES WHAT MONKEY SEES, stand auf einem Stück Papier, auf einem anderen: NOBODY KNOWS ANYTHING. Ein Foto zeigte die Titanic beim Auslaufen aus dem Hafen von Belfast, eines ein auf einer Straße vor einem zerbeulten Auto liegendes Nashorn, ein drittes Laurel und Hardy mit spitzen Hüten auf den Köpfen. Megan hob eine der Postkarten, die nur mit einem Stück Klebeband befestigt waren, leicht an und sah, dass die Rückseite leer war, ohne Text und Briefmarke. Die Kartenmotive waren so unterschiedlich und scheinbar wahllos zusammengetragen wie die Texte und Zitate auf den Notizzetteln und Zeitungsausschnitten: ein buddhistischer Tempel, Che Guevara, der brennende Zeppelin in Lakehurst, ein mit allen vier Beinen in Gummistiefeln steckender Esel, der Eiffelturm bei Nacht, Orson Welles, Monets Seerosen, ein Strand mit Sonnenuntergang.
»Sie müssen denken, ich sei verrückt«, sagte Tanvir in die Stille.
Megan drehte sich zu ihm um. »Überhaupt nicht.«
»Wie einer von diesen Psychopathen im Film. Irgendwann kommt die Polizei ihnen auf die Spur und betritt ihr Zimmer, das so aussieht wie dieses, und alle sind sprachlos.«
»Die im Film sind aber immer von einer bestimmten Sache oder einer Person besessen. Sie nicht. Sie sind kein Psychopath. Obwohl Sie gerade davon besessen scheinen, jeden Kern aus den Orangen zu entfernen.«
Tanvir hielt in seiner Tätigkeit inne, als würde ihm erst jetzt bewusst, was er tat. »Ach das. Die Kerne müssen raus, glauben Sie mir.« Er zeigte auf ein Bild, das neben dem Schrank hing, das einzige gerahmte. »Kennen Sie Walton Ford?«
Megan sah sich das Bild an. »Nein.« Der Kunstdruck zeigte einen Schimpansen mit einer Eisenmanschette um den Hals, von der sich eine schwere Kette bis zu einem in eine Wand eingelassenen Ring zog. Auf dem Schachbrett des Marmorbodens vor dem Tier lag, mit dem Ledereinband nach oben, ein aufgeschlagenes Buch, daneben eine Schreibfeder. Der Schimpanse sah Megan an. Sein Blick schien teilnahmslos, gleichgültig, obwohl im Hintergrund, jenseits eines steinernen Balkongeländers und eines Meeres, eine Stadt in Flammen stand. A Monster from Guiny , las Megan auf einem Stück Klebeband am Rahmen.
»Ein großartiger Maler«, sagte Tanvir. »Leider habe ich die Bildbände von ihm nicht hier.«
»Nicht hier? Sondern wo?«
»Bei meinem Bruder. In Boston.«
»Kommen Sie von dort, aus Boston?«
»Nun, ich wurde in Indien geboren. Ich bin neunzehnhundertsechsundachtzig mit meinem Bruder nach Amerika gegangen.«
»Und Ihre Eltern?«
»Sind beide tot. Mein Vater starb bei einem Grubenunglück, als ich fünfzehn war.«
»Mein Vater ist auch gestorben«, sagte Megan rasch, als könnte ein Tod dem anderen ein wenig von seinem Schrecken nehmen.
»Mein Beileid. Ist er schon lange tot?«
»Ja.« Megan schob die Orangenschalen zur Seite. »Was ist mit dem Nachtisch?«
»Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Der Appetit kommt beim Essen!« Tanvir erhob sich, holte zwei halbe Kokosnussschalen, von denen eine ganze Reihe auf einem Regal des Schranks standen, zwei Löffel und ein mit Papier umwickeltes Glas und setzte sich wieder hin. Dann füllte er dieOrangenstücke in die Kokosnusshälften, tat etwas Honig aus dem Glas dazu und schob Megan ihre Schale und einen Löffel zu.
Eine Weile aßen sie schweigend. Die Orangen waren so süß und der Honig von einer so intensiven Würze, dass Megan es für unnötig hielt, etwas zu sagen. Als sie fertig waren, setzten beide ihre
Weitere Kostenlose Bücher