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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Stück weitan ihm hochzuklettern. Sie müssen sich Nunu klein vorstellen, klein mit langen, dünnen Armen. Als sie diese Arme nach einem der untersten Äste ausstreckte, ihn mit den Händen umfasste und sich hochziehen wollte, wie es all die anderen um sie herum taten, musste sie feststellen, dass ihr die Kraft dazu fehlte. Die nächsten Tage verbrachte sie damit, die Arme nach dem Ast auszustrecken, ihn mit den Händen zu umklammern und zu versuchen, sich hochzuziehen. Aber sie schaffte es nicht einmal, die Füße vom Boden zu bekommen. – Nun, irgendwann hat sie es geschafft, zwei Wochen später, vielleicht drei. Und wieder ein paar Wochen später konnte sie schon ein kurzes Stück am Stamm hochklettern. Als sie vier Jahre alt war, kam sie ins zweite Außengehege, wo die richtig großen Bäume standen. Hier sah ich Nunu zum ersten Mal wirklich.« Megan hob den Kopf. »Alles, was ich Ihnen bis jetzt erzählt habe, stammt aus einem Film. Eine der Mitarbeiterinnen hat Nunu jeden Tag gefilmt, hunderte von Stunden kamen so zusammen. Ich saß in der Quarantänestation fest und hatte viel Zeit, mir die Bänder anzusehen. Alle im Camp waren ganz aufgeregt und glücklich, Nunus Entwicklung mitzuerleben, Zeugen zu sein, wie aus diesem Häufchen Elend langsam und unter unvorstellbaren Mühen ein Wesen wurde, das immer mehr Ähnlichkeit mit einem Orang-Utan-Mädchen hatte, keinem sehr fröhlichen zwar, aber immerhin einem, das nicht tot war und eines Tages wohl in den Dschungel zurückkehren würde. – Ich stand auf dem Turm, der für zahlende Touristen gebaut worden war, und beobachtete Nunu durch ein Fernglas. Auf der Station gab es keine Arbeit für mich, außer die, mich mit den Gästen auf diesen Turm zu stellen und den Text herunterzuspulen, den eine Woche zuvor noch die Praktikantin aus Neuseeland heruntergespult hatte. Immer, wenn ich auf dem Turm war, suchte ich nach Nunu, und meistens fand ich sie auf einem der unteren Äste eines Baumes sitzen. Sie war inzwischen etwas gewachsen und ihre Arme waren kräftiger geworden. Wenn sie kletterte, sah es noch sehr unsicher aus, aber sie machte jeden Tag Fortschritte. – Der Tag, den ich nie vergessen werde, war ein Montag. Am Sonntag hatte es heftig geregnet, und jetzt strahlte die Sonne. Am Nachmittag war es sehr heiß, sogar unter dem Dach des Turms. Nunu saß auf einem Ast und schien einfach nur darauf zu warten, dass es Abend wurde und sie mit den anderen zurück insSchlafhaus gebracht würde. Aber dann begann sie plötzlich zu klettern. Sie griff nach dem Ast über ihrem Kopf und zog sich hoch, streckte den Arm nach dem nächsten aus und wieder dem nächsten. Sie tat es langsam, und offensichtlich bereitete es ihr noch immer viel Mühe, sich hochzuziehen. Auf jedem Ast, den sie erreichte, musste sie kurz ausruhen, bevor sie weiterkletterte. Bald schien sie völlig erschöpft zu sein, aber das hielt sie nicht davon ab, immer höher zu steigen und höher. Der Baum war ein Riese, seine Krone überragte den Turm bei weitem. Als Nunu auf etwa fünfzehn oder zwanzig Metern Höhe war, setzte sie sich hin. Sie saß da und ruhte sich aus, und ihr Blick war so leer wie am Tag und in der Woche und im Monat davor. Der Lebensfunke, den alle auf der Station herbeisehnten und herbeiredeten, leuchtete auch jetzt nicht in ihren Augen, trotz dieses vermeintlichen Triumphs über ihre Angst und ihre Schwäche. Sie saß lange da, ohne sich zu bewegen. Vielleicht fürchtete sie sich vor dem Runterklettern, dachte ich und wollte es jemandem sagen. Ich legte das Fernglas weg, und da ließ sie sich fallen. Ich sah sie als kleinen Punkt nach unten stürzen und glaubte sogar den Aufprall ihres Körpers auf dem Boden gehört zu haben.«
    Tanvir schwieg lange; vielleicht, weil er abwartete, ob Megan weitererzählen würde, oder weil er über das Gehörte nachdachte. Megan sagte nichts mehr und war froh über die Stille. Sie trank ihr Glas leer und sah auf die Tischplatte. Tanvir ließ die Arme, die er bis jetzt vor der Brust verschränkt gehalten hatte, herabhängen, wie erschöpft von dem, was er gehört hatte.
    »Sie hat sich fallen lassen, sagen Sie?«, fragte er schließlich. »Wäre es nicht auch möglich, dass sie den Halt verloren hat? Abgerutscht ist?«
    »Sie ist nach vorne gekippt«, sagte Megan, ohne aufzublicken. »Langsam und bewusst, wie ein Kind am Rand eines Schwimmbeckens.«
    »Sie hatten das Fernglas weggelegt.«
    »Sie wollte fallen«, sagte Megan leise, aber bestimmt.
    »Sie

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