Auf den Inseln des letzten Lichts
Schale an die Lippen und tranken den Saft, der sich gesammelt und mit dem Honig vermischt hatte. Tanvir grinste zufrieden, und Megan konnte nicht anders als zu lächeln.
»Und jetzt müssen Sie mir etwas von sich erzählen«, sagte Tanvir.
»Muss ich?«
»Ich habe Ihnen zu essen gegeben, jetzt ist es an der Zeit, mir Ihr Gastgeschenk zu überreichen. Worte. Eine Geschichte.«
»Kann ich nicht einfach das Geschirr spülen?«
Tanvir schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Megan dachte nach. Sie hatte Lust auf Bier, aber sie wollte Tanvir nicht danach fragen und vielleicht in Verlegenheit bringen. »Auf Borneo, in der Auffangstation für Orang-Utans, gab es ein Baby, dem der Name Nunu zugefallen war«, sagte sie schließlich, legte die Handflächen auf den Tisch und senkte den Kopf, sah die Maserung des Holzes, die Risse und Flecken. »Nunu war von Wildhütern gefunden worden, die uns regelmäßig verwaiste Jungtiere brachten. Das Ungewöhnliche an Nunus Fall war, dass man sie zusammen mit ihrer toten Mutter ablieferte. Man hatte die beiden in einer Palmölplantage gefunden. Orang-Utans enden auf der Suche nach Futter oft dort, weil sie aus den wenigen Wäldern, die noch geblieben sind, vertrieben werden und es keinen Ort gibt, wohin sie ausweichen können. Vielleicht wurde Nunus Mutter dort geboren, wo jetzt die Plantage stand. Sie war erschossen worden, und wir wussten, von wem, und alles, was wir tun konnten, war, dieses abgemagerte, völlig verängstigte und verdreckte Geschöpf bei uns aufzunehmen und zu versuchen, sein Leben zu retten. Die Mutter war seit zwei oder drei Tagen tot, der Verwesungsprozess hatte eingesetzt, ihr Körper war aufgedunsen, der Geruch unerträglich. Die Wildhüter hatten versucht, Nunu von der Leiche wegzunehmen, aber die Kleine klammerte sich so verzweifelt im Fell fest, dass sie ihm die Finger hätten brechen müssen, um den Griff zu lösen. Sie war dehydriert undhatte eine Wunde am Rücken, und wir hängten sie an den Tropf und desinfizierten die Wunde, aber sie war halbtot und wir konnten ihr kein Beruhigungsmittel geben, um ihre Hände zu öffnen, und so blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie endlich einschlief und wir sie von ihrer Mutter trennen konnten. Wenn die Babys sterben, tun sie das in den ersten drei, vier Tagen nach ihrer Einlieferung, und alle waren sicher, dass es mit Nunu nicht anders sein würde. Aber sie starb nicht. Sie war völlig apathisch und gab nie einen Laut von sich, nicht als man ihr die Wunde säuberte und nicht, als man ihr Spritzen gab. Sie wollte nicht trinken, und wir mussten sie über eine Magensonde ernähren, damit sie nicht verhungerte. Eine der einheimischen Pflegerinnen kümmerte sich um sie, trug sie ständig mit sich herum und brachte sie nach langer Zeit endlich dazu, den Brei zu essen, den alle Babys bekamen. Nunu wuchs, aber sie lebte nicht wirklich. Sie reagierte auf nichts, tat nichts, außer zu atmen und zu schlucken und sich zu entleeren. Als sie alt genug war, kam sie in den Kindergarten, ein Gehege, in dem die Kleinen, die es auf wundersame Weise geschafft hatten, spielen und an Klettergerüsten ihre Kraft und ihren Mut erproben konnten. In den ersten Wochen saß Nunu nur da und starrte vor sich hin, aber irgendwann bewegte sie sich ein wenig, hob den Kopf, sah sich um. Am nächsten Tag ging sie ein paar Schritte, am darauffolgenden auch und so weiter, eine entsetzliche Anstrengung. Sogar ihr dabei zuzusehen, wie sie sich von einem Ende des Geheges zum andern schleppte, war eine Qual.« Megans rechte Hand bewegte sich langsam über der Tischplatte hin und her. Als sie nach einer Weile merkte, was sie tat und dass sie vergessen hatte weiterzuerzählen, setzte sie sich aufrecht hin und holte, die Augen geschlossen, tief Luft. »Mit zwei Jahren durfte Nunu ins erste Außengehege. Dort gab es Bäume, vergleichsweise kleine Bäume, der größte vielleicht fünf Meter hoch. Einige der Halbwüchsigen versuchten sich im Klettern, turnten an den unteren Ästen herum, Seile und Schaukeln gab es hier keine mehr. Eines Tages fing Nunu ebenfalls an, sich für die Bäume zu interessieren. Zuerst saß sie nur da und sah zu ihnen hoch, aber schließlich berührte sie einen der Stämme. Minutenlang ließ sie ihre Hand auf der Rinde, als wollte sie prüfen, ob der Baum ihr nichts tun würde. Es dauerte lange, bis sie so viel Vertrauen in sich und den Baum hatte, dass sie versuchte, ein
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