Auf den Inseln des letzten Lichts
Ende des Flurs lag ein Raum, der doppelt so groß war wie die anderen. Durch vier statt nur zwei Fenster fiel Licht herein und warf helle Rechtecke auf den blauen Teppichboden, der hier das grau marmorierte Linoleum ersetzte. Bis auf einen grüngestrichenen Schrank und einen kleinen Tisch, auf dem sich mehrere Bücherstapel türmten, gab es keine Möbel. Bunte, mit Styroporkugeln gefüllte Stoffsäcke, aufblasbare Plastikbälle und Kissen lagen auf dem Boden verteilt herum. An einer Wand hingen großformatige Farbdrucke, die Landschaften zeigten: grüne Hügel, braune Steppen, schneebedeckte Berggipfel. Halogenlampen waren in der weißgestrichenen Decke integriert und an einigen Stellen Lautsprecherboxen, in der Mitte ragte ein Feuermelder heraus. In einer Wandnische schimmerte der dunkle Bildschirm eines Flachbildfernsehers.
»Der Unterrichtsraum.« Raske atmete einmal tief ein und wieder aus. Eine Weile stand er mit hängenden Schultern zwischen den bunten Sitzgelegenheiten und sah auf das Bild eines Fjords, als überkomme ihn ein elendes Heimweh, dann bückte er sich nach einem Buch und legte es zu den anderen auf den Tisch.
»Schön«, sagte Megan, weil ihr sonst nichts einfiel.
Raske seufzte und drückte die Knöpfe einer Fernbedienung, die erauf den Bildschirm richtete. »Kaputt«, sagte er, »seit zwei Jahren.« Er legte die Fernbedienung weg. »Ein teures Gerät, Plasma.« Er klang nicht klagend, geschweige denn bekümmert, eher wie jemand, der den Niedergang der Dinge als unabwendbar betrachtet und dabei fast so etwas wie Genugtuung verspürt. Er rollte einen Ball zur Seite und ging durch eine zweite Tür, die Megan erst jetzt bemerkte.
Der enge Nebenraum sah aus, als würde er als Abstellkammer genutzt. In einer Ecke türmten sich bis unter die Decke Kisten, in einer anderen Apparate, die offensichtlich nicht mehr funktionierten. Auf dem niedrigsten Kistenturm stand eine mechanische Schreibmaschine. Kleidungsstücke, vor allem weiße und hellgrüne Oberteile und Hosen, wie sie das medizinische Personal in Krankenhäusern trug, bedeckten einen Klapptisch, am Boden darunter leuchtete gelb Carlas Reisetasche. Es gab nur ein Fenster, an der Decke brannten zwei Neonlampen.
»Hier können Sie sich umziehen«, sagte Raske. Er schob einen Putzeimer mit dem Fuß zur Seite und zog das Rollo am Fenster herunter. Als er den Ausdruck von Unsicherheit und Skepsis in Megans Gesicht bemerkte, lächelte er. »Ich habe Sie für drei Rollen vorgesehen.« Er zog ein Blatt Papier aus der Gesäßtasche und faltete es auseinander. »Megan O Flanagan, Veterinärin aus Irland. Edwina Carmichael, Neurologin aus England. Und Susan Falcone, Linguistin aus Amerika.«
»O Flanagan?«
»Wir spielen hier Rollen. Falls jemand bei der Stiftung auf die Idee kommen sollte, einen der Namen nachzuverfolgen, wovon wir nicht ausgehen, soll er ja nicht gleich herausfinden, dass Sie Ihren Doktor nie gemacht haben.«
Megan starrte Raske an.
»Oder dass Sie die EWSI-Station auf Borneo bereits nach zwei Monaten verlassen haben. Ohne dort jemals in einer leitenden Position gewesen zu sein.« Raske faltete das Papier wieder zusammen und steckte es zurück in die Hosentasche.
»Sie haben offenbar Ihre Quellen«, sagte Megan, nachdem sie sich gefasst hatte.
Raske nickte.
»Und Sie geben mir den Job trotzdem?«
»Ich gebe Ihnen Zeit auf dieser Insel.«
»Und viel Geld.«
»Das Sie sich heute verdienen können.« Raske nahm einen weißen Kittel vom Tisch, hielt ihn mit gestreckten Armen von sich, ließ ihn aber gleich wieder sinken und wandte sich einer Frau zu, die in Megans Rücken den Raum betreten hatte. »Vera, wie schön, Sie zu sehen!«, rief er.
Megan drehte sich um und sah eine junge dunkelhaarige Frau in hellgrüner Krankenhauskleidung, die mit beiden Armen eine Pappkiste vor der Brust umschlungen hielt.
»Guten Tag«, sagte die Frau mit schwerem russischem Akzent. Sie trug große runde Ohrringe aus buntem Plastik, und die Hornbrille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht.
»Megan, darf ich Ihnen Vera Dimitrowa vorstellen? Vera ist Logopädin aus Weißrussland. Sie war für ein paar Tage in Manila.«
Vera setzte die Kiste auf dem Tisch ab und streckte Megan die Hand entgegen. »Sehr erfreut.«
Megan schüttelte die Hand mechanisch. »Hallo.«
»Ich muss mich noch um ein paar Dinge kümmern.« Raske sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde vorne in der eins?«
Vera nickte. »Bis gleich.«
Raske gab Megan den Kittel. »Der
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