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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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nicht gewillt war zu schlafen. Die Mütze hatte er abgenommen und neben sich gelegt. Weil Raske den Primaten ebenfalls verschiedene Rollen zugeteilt hatte, musste Montgomery sich im Verlauf des Tages dreimal umziehen und trug jetzt wieder die lange blaue Hose und das blaue Kurzarmhemd, eine Art Uniform, die für ihn so typisch war wie für Chester die bunten Leibchen und kurzen Hosen. Er schürzte die Lippen und legte die Stirn in Falten, während er das Blatt mit Kringeln und Strichen füllte, einem auf den ersten Blick wirren Geflecht, das langsam zu einem ornamenthaften Blumenmuster wurde.
    »Sie schulden mir noch eine Geschichte«, sagte Tanvir, als er den Topf mit dem heißen Wasser hereinbrachte und in einem Krug Tee zubereitete. »Für das Abendessen neulich«, fügte er hinzu, als Megan ihn fragend ansah.
    »Ich habe Ihnen eine Geschichte erzählt.«
    »Die handelte von einem Orang-Utan, nicht von Ihnen.«
    Megan stellte den zweiten Stuhl neben Montgomery und setzte sich. Blätter wuchsen aus den Stengeln, Kreise formten neue Blütenköpfe, die Linien überschnitten sich und bildeten ein immer dichteres Gewebe.
    Tanvir stellte zwei volle Tassen auf den Tisch, holte eine leere Holzkiste von draußen und nahm darauf Platz. Er schob Megan eine Tasse hin, tat Zucker in seine und rührte um.
    »Sie muss von mir handeln?«
    Tanvir nickte.
    Megan zog die Tasse zu sich heran. Ihr Spiegelbild schwamm im braunen Tee. Auf dem Papier floss Linie neben Linie, bis kein Platz mehr war. Montgomery legte den Stift hin und gab ihr das Blatt. Unzählige Blumen waren darauf, ein ganzes Feld breitete sich vor ihr aus, ein organisches Gewirr, in dem sich der Blick verlor.
    »Danke.« Megan legte eine Hand auf Montgomerys Arm.
    Montgomery senkte für zwei, vielleicht drei Sekunden die Lider, wie ein alter Mann, dem jeder Dank unangenehm ist. Ein Laut kam aus seiner Kehle, etwas zwischen Singen und Seufzen, dann setzte er die Mütze auf, kletterte vom Stuhl und verließ das Haus.
    »Wohin geht er?«, fragte Megan.
    »Er sieht nach den Hühnern. Ich glaube, er weiß, wie viele es sind, und zählt sie. Wenn eins fehlt, sucht er nach ihm.«
    »Essen Sie sie?«
    »Ich habe seit über fünfzig Jahren kein Huhn mehr getötet. Sie sind meine Gesellschafterinnen. Und wenn sie gute Laune haben, legen sie ein Ei für mich.«
    »Und die Schweine?«
    »Ob ich sie esse? Nein. Sie sind mir zugelaufen. Raske behauptet, sie gehörten IPREC, aber das ist mir egal.«
    »Haben die Hühner Namen?«
    »Nur eins. Das Älteste. Miss Ellie.«
    »Miss Elli. Hübsch.«
    »Aus ›Dallas‹. Kennen Sie die Fernsehserie? Miss Elli ist die Mutter des Ewing-Clans.«
    »Als ich klein war, hatten wir keinen Fernseher, und später wollte ich keinen.«
    Tanvir trank einen Schluck Tee. »Was haben Sie an den Abenden und verregneten Sonntagen gemacht?«
    »Gelesen. Gezeichnet. Geschrieben.«
    »Geschrieben? Was?«
    »Wissenschaftliche Abhandlungen über das musikalische Wahrnehmungsvermögen von Schweinen. Mutmaßungen über die Funktion des Staubs auf Mottenflügeln. Geschichten.«
    »Erzählen Sie mir eine.«
    »Sie handelt aber nicht von mir. Keine handelt von mir.«
    »Das macht nichts.« Tanvir verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
    Megan sah auf die Zeichnung hinab, versank darin. Das Holz um sie herum dehnte sich aus, knisterte. Ihr gefiel der Gedanke, dass es arbeitete, noch immer lebte.
    »In einem Baum in einem Garten wohnte ein Specht«, begann sie schließlich. »Bei schönem Wetter saß ein Junge unter dem Baum und schnitzte an seinem Holzgewehr oder las in einem Comicheft. Eines Tages wurde in einem der Hefte das Morsealphabet erklärt, und der Junge lernte es. Als der Specht an den Stamm klopfte, schrieb der Junge mit. Was er las, war so unglaublich schön und selbst für den kleinen Jungen von solch überwältigender Wahrhaftigkeit, dass er sich neben diesem Vogel dumm und hässlich und unbedeutend vorkam. Er holte seine Steinschleuder und tötete den Vogel. Der Specht fiel leblos herunter und durchbohrte mit seinem spitzen Schnabel das Herz des Jungen. Ihr Blut vermischte sich und bedeckte das Geschriebene, und die Schönheit verschwand aus der Welt.«
    Eine Weile saß Tanvir nur da und starrte an einen Punkt an der Wand über Megans linker Schulter.
    »Ende«, sagte Megan.
    Tanvir, die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, rührte sich nicht. Einmal strich er mit der Hand über die Glatze und ächzte leise, schien Luft

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