Auf den Inseln des letzten Lichts
Dann steckte sie ihn rasch in den Mund und zog ihn durch die zusammengepressten Lippen, damit die Haare ihre spitz zulaufende Form behielten.
»Darf man sehen?« Raske blieb in der Sonne stehen und legte die Hände auf das Geländer.
»Es sind nur simple Studien, Skizzen.« Erst jetzt bemerkte Megan den etwa fünf Zentimeter langen Kratzer auf Raskes rechter Wange.
»Ein Ast«, sagte Raske, dem Megans Blick nicht entgangen war. Er berührte flüchtig die verschorfte Wunde und lächelte. »Man muss hier nur aufpassen, dass sich so was nicht entzündet.« Er trat neben Megan, nahm die Sonnenbrille ab und sah sich die Zeichnungen an.
»Wissen Sie, wie diese Blume heißt?«
Raske beugte sich über den Block auf Megans Beinen. »Tut mir leid«, sagte er dann und richtete sich wieder auf. »Für Botanik fehlte mir schon immer das nötige Interesse.«
»Macht nichts«, sagte Megan. »Ich werde Tanvir fragen.« Dann fiel ihr ein, wie schlecht Raske auf Tanvir zu sprechen war. »Oder Miguel«, beeilte sie sich.
»Nancy kennt sich mit Blumen aus«, sagte Raske, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Er streckte die Hand aus. »Darf ich?«, fragte er und griff nach der Muschel. »Sie sollten sowieso bald einmal bei ihr vorbeischauen. Odin scheint es nicht gutzugehen.«
»Odin?«
»Der Hund. Nancys Labrador. Er frisst nicht, wie er soll.«
Megan sah den Hund ab und zu, wenn er hinter Ruben hertrottete oder in Nancys Wohnzimmer schlafend auf dem Boden lag, hatte es aber immer versäumt, nach seinem Namen zu fragen.
»Ich kann ihn mir heute ansehen«, sagte sie.
»Sehr gut.« Raske legte die Muschel zurück, zog ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und polierte damit die Gläser der Sonnenbrille. »Und sonst? Wie gefällt Ihnen das Inselleben?«
»Noch immer gut«, sagte Megan. Sie nahm den Aquarellkasten, das Wasserglas und die Pinsel vom zweiten Stuhl, den sie aus einem der leerstehenden Häuser geholt hatte, und legte alles auf den Boden. »Wollen Sie sich setzen?«
Raske schien kurz nachzudenken, dann zog er den Stuhl an der Lehne zu sich heran und nahm darauf Platz. »Ein paar Minuten Zeit habe ich«, sagte er und steckte die Sonnenbrille in die Brusttasche des Hemdes. »DasAuto ist kaputt, diesmal wohl für immer. Jetzt muss ich zu Fuß gehen, wie alle anderen.« Er grinste.
»Ich bin gerne zu Fuß unterwegs«, sagte Megan.
»Es ist nur, weil mein Haus etwas abseits liegt. Hin und wieder muss ich auch Dinge transportieren. Gasflaschen, zum Beispiel.«
»Ich könnte versuchen, ein Fahrrad für Sie zu bauen.«
Raske lachte. »Ein Fahrrad bauen?«
»Mein Vater hat das mal gemacht. Aus Schrottteilen.«
»Na ja, davon hätten wir hier genug«, sagte Raske, noch immer lachend. »Trotzdem, machen Sie sich keine Mühe.«
»Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts tue.«
»Warum denn? Sie tun doch etwas. Sie haben Wesleys Fuß behandelt, erfolgreich.«
»Na ja, das kann man kaum Arbeit nennen«, sagte Megan. Sie versuchte, nicht auf die Schramme zu sehen, die Raskes sonst so ebenmäßiges und unversehrtes Gesicht beinahe entstellte.
»Natürlich kann man das. Außerdem habe ich Sie gewarnt. Wenn Sie hektische Fünfzehnstundentage brauchen, um glücklich zu sein, sind Sie hier am falschen Ort.« Raske grinste, faltete das Taschentuch sorgfältig zusammen und schob es zurück in die Hosentasche.
Megan lächelte. »Ich will nur nicht den Eindruck einer Schmarotzerin machen.«
»Keine Sorge, das tun Sie nicht. Außerdem haben Sie noch keinen Lohn erhalten.« Raskes Grinsen wurde noch breiter.
»Ich muss Ihnen noch die Bankverbindung aufschreiben.«
»Tun Sie das.«
Eine Pause entstand. Raske verscheuchte eine Fliege, die seinen Kopf umkreiste.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Nur zu.«
Megan räusperte sich, zögerte. »Es ist so … Ich habe mich gefragt, was … was jemand wie Sie …« Sie verstummte, suchte nach den richtigen Worten.
Raske lachte. »Was jemand wie ich auf dieser Insel macht.«
»Ja. Ich meine …«
»Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Die Antwort ist: Mir geht es wie Ihnen. Ich mag das Leben hier.«
»Auch jetzt noch? Nachdem alles so … so anders ist.«
Raske lachte, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ja, auch jetzt noch«, sagte er. »Ich war lange genug in Büros und Labors eingesperrt. Ich kam mir schon selber vor wie ein Affe im Käfig.«
»Sie haben mit Affen gearbeitet?«
»Nun ja, auch. Manchmal.«
Megan wartete.
»Nach meinem Studium
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