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Auf den Inseln des letzten Lichts

Auf den Inseln des letzten Lichts

Titel: Auf den Inseln des letzten Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Lappert
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Augen sind rot. Hast du geweint?« Sie nahm Megans Hände in ihre, als müssten sie gewärmt werden.
    »Nein.«
    »Wo warst du gestern? Ich habe auf dich gewartet.«
    »Bei Tanvir.«
    »Warum nur? Er ist ein alter Lügner.«
    »Er ist mein Freund.« Megan löste sich aus Esters sanftem Griff und stand auf. Sie zog die Schuhe aus und dann die Hose und das Hemd.
    »Hat er dir sein Leben erzählt?«
    Megan antwortete nicht und ging ins Badezimmer.
    »Woher kommt er?«, rief Ester. »In der Geschichte, die er mir erzählt hat, aus Bangladesch. Während der Hungerkatastrophe hat er George Harrison und Eric Clapton kennengelernt und ist mit ihnen nach England. In Liverpool hat er für Apple Records Kaffee gekocht. Er hat für die Beatles Kaffee gekocht!«
    »Ist doch eine tolle Geschichte.«
    »Er ist ein Lügner! Und nicht richtig im Kopf!«
    »Wer ist das schon.« Megan stellte sich in die Dusche und drehte das Wasser an. Ester redete weiter, sie konnte sie durch das Rauschen hören. Eine von Tanvirs Lebensgeschichten stimmte, und sie war sicher, dass es die war, die er ihr erzählt hatte.
    Nach dem Duschen trocknete sie sich flüchtig ab und ging zum Bett. Ester hatte den Wickelrock ausgezogen und lag mit einem Slip und einem Trägerhemd bekleidet unter dem Moskitonetz.
    »Ich brauche die Laken.«
    »Was?«
    »Ich will zum Strand. Ich kann hier drin nicht schlafen.«
    »Wir müssen ja nicht schlafen.« Ester rollte sich blitzschnell zum Bettrand, packte Megans Bein und zog sie zu sich auf die Matratze.
    Megan wehrte sich nicht. Sie lachte, als Ester sich auf sie setzte und ihr die Handgelenke niederdrückte.
    »Liebst du mich?«
    »Vielleicht.«
    »Das ist besser als ein Nein, oder?«
    »Ja.«
    Ester beugte sich über Megan, berührte mit den Haarspitzen ihr Gesicht. »Würdest du für mich sterben?«
    »Frag doch nicht so was.«
    »Würdest du?«
    Megan drehte den Kopf zur Seite. »Ich bin betrunken.«
    »Ja oder nein.«
    »Wer macht die Lampe aus?«
    »Willst du nicht mehr zum Strand?«
    »Nein.«
    Ester gab Megans Handgelenke frei, richtete den Oberkörper auf und streifte den Ring ab, den sie an der rechten Hand trug. »Hier.« Sie legte den Ring in die Kuhle über Megans Brüsten. »Dafür will ich deinen.«
    Megan nahm den Ring in die Hand und betrachtete ihn. Er war aus Gold oder zumindest vergoldet. In einer Fassung, die geflochten war wie ein Korb, lag ein schwarzer, von hellen Äderchen durchzogener Stein.
    »Er hat meiner Großmama gehört.«
    »Das geht nicht«, sagte Megan. Sie nahm Esters Hand und legte den Ring hinein.
    »Warum?«
    »Ich kann meinen nicht hergeben.«
    »Von wem ist er?«
    »Von meinem Bruder.«
    Ester legte sich neben Megan. »Wie heißt er?«
    »Tobey.«
    »To-bi«, wiederholte Ester. Sie fuhr mit einem Finger über Megans Bauch und sagte leise etwas in ihrer Sprache.
    Megan schloss die Augen. Die Welt drehte sich nur noch langsam.

 
    6
     
    Den halben Morgen verbrachte Megan mit dem Malblock auf den Knien unter dem schmalen Vordach ihrer Unterkunft und zeichnete eine halbverwelkte Blüte, die der Wind von einem der Büsche geweht hatte. Den Namen der Pflanze kannte sie nicht und nahm sich vor, Tanvir zu fragen. Vielleicht war Rosalinda mit der heimischen Flora vertraut, überlegte sie, oder Miguel. Es war noch nicht Mittag und die Luft relativ kühl. Wenn sie die Aquarellfarbe aus dem Pinsel wusch oder den Bleistift spitzte, blinzelte sie hinaus in die Helligkeit, die sich vor ihr ausbreitete, sonst ruhte ihr Blick auf dem Papier, den Strichen, den wolkigen Farbflächen. Auf der gleichen Seite hielt sie aus drei verschiedenen Perspektiven eine Muschel fest, die sie am Strand gefunden hatte und von der sie so wenig wusste wie von der Blume mit den großen faltigen, purpurfarbenen Blättern.
    Sie war so versunken in ihre Arbeit, dass sie zusammenzuckte, als jemand ihren Namen rief. Ein kleiner hellbrauner Punkt auf dem gemalten Muschelgehäuse wurde zum Fleck, den sie rasch mit einem Fetzen Toilettenpapier wegtupfte. Sie hob den Kopf und sah Raske den Weg entlangkommen.
    »Immer schön fleißig?«, rief Raske. Wie meistens trug er Segeltuchschuhe, eine helle Hose und ein Hemd, dieses Mal eines in verwaschenem Blau, seinen Hut und die Sonnenbrille. Trotz der Hitze war ihm keine Erschöpfung anzumerken oder gar anzusehen, sein Schritt zügig und die Kleidung makellos.
    »Na ja, ich beschäftige mich«, sagte Megan. Sie reinigte den Pinsel im Zahnputzglas und trocknete ihn am Hemdzipfel.

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