Auf den Inseln des letzten Lichts
Taschentuch gegen die Lippen presste. Ihre Haare waren ein sturmzerzaustes Nest, aus dem sich drei, vier gelbe Spangen wie Vogelschnäbel reckten.
Megan trat vor den Sessel, ging in die Hocke und legte der Frau eine Hand auf den Arm. »Es wird alles gut«, sagte sie sanft. Sie fühlte Nancys Puls, der fast normal war, dann streichelte sie ihren Arm. »Es wird alles gut.«
Nancy schluchzte, schüttelte langsam den Kopf. Der Aschenbecher auf dem Tisch neben ihr war leer, so groß schien ihr Kummer zu sein. Nur ein Glas Wasser stand da, halbvoll und mit dem roten Abdruck ihrer Unterlippe darauf.
»Soll ich mir Odin einmal anschauen?«
Nancy sah Megan an. Die Schminke, die sie am Morgen aufgelegt hatte, war verschmiert, von den Augen zogen sich dünne schwarze Bahnenüber die Wangen. »Wen?«, fragte sie, ohne das Taschentuch vom Mund zu nehmen.
»Odin. Ihren Hund.«
Als müsste sie ihre Gedanken neu sortieren, schüttelte Nancy erneut den Kopf. Dann schneuzte sie sich in das Taschentuch und legte die Hände in den Schoß. »Er heißt nicht Odin«, sagte sie, und die Klarheit in ihrer Stimme überraschte Megan.
»Nicht?«
»Nein«, sagte Nancy bestimmt. »Sein Name ist Himself.«
»Himself«, wiederholte Megan tonlos.
»Ist etwas mit ihm?« Nancy holte schluchzend Luft, als wollte sie wieder anfangen zu weinen.
Megan kniete sich hin, ließ den Kopf hängen und schloss die Augen. Nach einer Weile nahm sie ihre Hand von Nancys Arm und öffnete die Augen wieder. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Hund die Hinterläufe bewegte. Sie erhob sich, nahm den Beutel von der Schulter und holte das Stethoskop hervor.
Nancy schneuzte sich noch einmal die Nase. »Sagen Sie doch, ist etwas mit ihm?«
Megan kniete sich vor den Hund und horchte ihm mit dem Stethoskop den Herzschlag ab. »Torben Raske sagte mir heute Morgen, er frisst nicht mehr.«
»Ach, das!«, rief Nancy, scheinbar wieder ganz die Alte. »Das hat sich erledigt.«
»Heißt das, er frisst wieder normal?« Megan berührte die feuchte Nase des Hundes und schob die Lefzen nach oben, um den Zustand der Zähne und des Zahnfleisches zu prüfen. Der Labrador öffnete sein Auge, bedachte sie mit einem schläfrigen Blick und schloss das Auge wieder.
»Wie man’s nimmt«, sagte Nancy. »Mal mehr, mal weniger. Aber er frisst.«
Megan tätschelte den Hund sanft und erhob sich. »Er schläft sehr viel, nicht wahr?«
»Ja, er träumt gerne.«
»Er träumt?«
»Natürlich«, sagte Nancy. »Ich weiß nicht, wovon, aber er träumt die ganze Zeit. Wenn ich eine Schallplatte höre, bewegt er die Vorderbeine, als würde er dirigieren.«
Megan steckte das Stethoskop zurück in den Stoffbeutel, trug einen Stuhl neben Nancys Sessel und setzte sich. Sie fühlte sich besser, und sie konnte sehen, dass auch Nancy sich beruhigt hatte.
»Es geht ihm gut«, sagte sie nach einer Weile. »Sie müssen sich keine Sorgen mehr machen.«
»Sorgen?«
»Wegen des Hundes.«
»Ich mache mir keine Sorgen um ihn.«
»Ich dachte nur, weil … weil Sie geweint haben.«
Nancy sah Megan mit gerunzelter Stirn an, als überlegte sie, wann sie geweint haben sollte. »Ach«, sagte sie plötzlich und hob die rechte Hand, um sie gleich wieder sinken zu lassen. »Das. – Das war, weil heute unser Hochzeitstag ist.«
Megan brauchte einen Moment, um zu verstehen. »Deshalb haben Sie geweint?«
»Um den Hund werde ich auch weinen. Aber das hat Zeit.«
»Ihr Mann hieß Bobby, nicht wahr?«
Nancy nickte, den Blick auf ihre Hände gerichtet, mit denen sie das Taschentuch umklammerte. Ihre Lippen zitterten. Dann sah sie Megan und lächelte. »An unserem Hochzeitstag haben wir immer einen Ausflug gemacht«, sagte sie. »Einmal sind wir nach Disneyland. Wie kleine Kinder.«
Megan erwiderte das Lächeln.
»Er war ein guter Ehemann.« Nancy wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen und verschmierte die Wimperntusche noch mehr.
»Das war er bestimmt.«
»Ich vermisse ihn.«
Um ihre Hand erneut auf Nancys Arm legen zu können, saß Megan zu weit von ihr entfernt, und so blieb sie, wo sie war, und hielt den Stoffbeutel fest, der auf ihren Knien lag. Sie fragte sich, ob ihre Eltern jemals Hochzeitstag gefeiert hatten, und bezweifelte es. Der Hund gähnte lautlos, etwas später zuckten seine Vorderläufe, als kratzte er an einer imaginärenTür. Von den beiden Affen war nichts zu hören, wahrscheinlich machten sie ihren Mittagsschlaf. Megan horchte auf das leise Knacken des Holzes, das sich
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