Auf den Inseln des letzten Lichts
sie so gut es ging an einem flachen Stein. Als er zwölf war, hatte er sich bei einem Sturz vom Scheunendach das rechte Bein gebrochen und danach wochenlang an Krücken fortbewegt. Aus dieser Erfahrung wusste er, dass er mit nur einer Krücke nicht gehen konnte, obwohl Megan es ihm vorgemacht und ihn ausgelacht hatte, weil er ständig hingefallen war.
Nach einer weiteren Stunde humpelte Tobey los. Die Astgabeln drückten ins Fleisch der Achselhöhlen, und er dachte für eine Sekunde daran, zum Turm zurückzugehen und das Hemd zu holen, aber dann ließ er es bleiben. Der Boden im Wald war vom Regen weich, und die Enden der Krücken versanken zentimetertief darin. Einmal rutschte er aus und fiel hin, aber er fluchte und jammerte nicht. Er fing auch nicht wieder an zu zählen.
Es war finstere Nacht, als Tobey das Licht der Küchenbaracke sah. Er wunderte sich, dass so spät noch jemand dort war, es musste weit nach zehn sein. Auf dem Platz blieb er stehen und holte Luft. Die Haut unterden Achseln war wundgescheuert, die halbwegs verheilten Handflächen bluteten wieder, und seine Arme fühlten sich an, als sei er von Irland hierher gerudert. Nur den Fuß spürte er kaum noch, der aufgeblähte Klumpen hing am Ende des Beins wie ein im Rhythmus des Herzens pochender Fremdkörper. Er zog das Messer unter dem Hosenbein hervor und steckte es in die Seitentasche der Hose. Dann humpelte er zur Tür, und als er sie öffnete und die Küche betrat, fuhr Rosalinda vor Schreck zusammen, starrte ihn an und bekreuzigte sich leise murmelnd. Sie saß am Tisch, vor ihr stand eine zur Hälfte mit Eiswürfeln gefüllte Schüssel. Ein gefaltetes Geschirrtuch lag auf ihrer Schulter, eine Hand auf ihrem bebenden Busen.
»Hallo, Rosalinda«, sagte Tobey in der Hoffnung, die Frau würde ihn dann nicht mehr für einen Geist halten.
Rosalinda schien tatsächlich die Fassung wiedererlangt zu haben. »Was ist passiert?«, fragte sie, erhob sich und stellte einen Stuhl vor Tobey hin. Sie trug ein bodenlanges blaues Kleid und Gummischlappen, die Haare hatte sie zu einem Knoten gewunden, aus dem Holzstäbchen ragten wie Stricknadeln aus einem Wollknäuel. Sie sah müde aus, das Weiß ihrer Augen war gerötet.
»Danke.« Tobey setzte sich und nahm das Glas, das die Köchin ihm reichte, trank es in einem Zug leer und ließ es sich erneut füllen. »Unfall«, sagte er. »Leiter.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei das Ganze nicht der Rede wert.
»Blut«, sagte Rosalinda und zeigte auf Tobeys Hände.
»Ja.« Tobey zuckte mit den Schultern. »Halb so schlimm.« Die Küche erschien ihm seltsam fremd, und er überlegte, woran das liegen mochte. Dann wurde ihm klar, dass die Ventilatoren stillstanden und das Radio nicht lief.
Rosalinda nahm das Geschirrtuch von der Schulter, tränkte es am Spülbecken mit Wasser und gab es Tobey. Weil sie ihn ansah und darauf zu warten schien, dass er etwas mit dem Tuch machte, wischte er sich das Gesicht damit ab. Rosalinda holte eine Plastiktüte aus dem Schrank, füllte zwei Hände voll Eiswürfel hinein, stellte ihren Stuhl vor Tobey, legte sein Bein darauf, zog ihm den Schuh aus und bedeckte den Fuß mit der Eispackung.
Tobey ließ das alles mit wohligem Selbstmitleid geschehen und fragte sich, wie Rosalinda hatte wissen können, dass er um diese Zeit mit einem verstauchten Fuß ankommen würde, für den sie schon das Eis in einer Schüssel bereithielt.
»Halten«, sagte Rosalinda, nahm Tobeys Hand und legte sie auf die eisgefüllte Tüte. »Hungrig?«
Tobey nickte. »Ein wenig.« Er stellte sich Rosalinda nackt vor, aber dann schämte er sich dafür und hielt den Blick auf den Fuß gerichtet, der unter der Kälte erwachte und zu pumpen und kribbeln begann, als sei er stundenlang taub gewesen.
Rosalinda richtete ihm einen Teller mit Brot, Käse, Zwiebelringen und Oliven und stellte ihn zusammen mit der Obstschale auf den Tisch.
»Danke.« Tobey wischte sich mit dem Tuch die Hände sauber und fing an zu essen.
»Ist für Tanvir«, sagte Rosalinda, nahm die Schüssel mit den Eisstücken in die Hand, holte ein frisches Geschirrtuch und ging zur Tür. »Sie okay, ja?«
»Ja. Danke.«
Rosalinda öffnete die Tür. »Ich komme zurück, bald.«
»Rosalinda?«
»Ja?«
»War das Boot da?«
»Ja, war da«, sagte Rosalinda, ging hinaus und machte die Tür zu.
Obwohl es ihn wütend machte, das Boot verpasst zu haben, verschlang er das Essen mit Heißhunger und trank den ganzen Wasserkrug leer.
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