Auf den Schwingen des Adlers
Worte, dann legte Emily auf und beschäftigte sich mit ihrer Stickerei. Ich dreh’ langsam durch, dachte sie. Ich lebe wie in Trance, bringe die Kinder zur Schule, rede mit Dallas, geh’ abends ins Bett, steh’`morgens auf ...
Der kurze Besuch bei ihrer Schwester Vicki hatte ihr gutgetan, aber es war nicht Tapetenwechsel, was sie brauchte. Was ihr wirklich fehlte, war Bill.
Es fiel ihr schwer, die Hoffnung nicht aufzugeben. Sie fing schon an, darüber nachzudenken, wie ein Leben ohneBill aussehen könnte. Sie hatte eine Tante, die im Kaufhaus Wooy in Washington arbeitete. Vielleicht konnte sie dort auch einen Job bekommen. Oder sie könnte mit ihrem Vater über eine Stelle als Sekretärin sprechen. Sie fragte sich, ob sie sich jemals wieder verlieben würde, sollte Bill in Teheran ums Leben kommen. Sie konnte es sich nicht vorstellen.
Sie wollte Bill wiederhaben. Mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein.
*
Karen Chiapparone fragte: »Mami, warum ruft Papi nicht an? Er ruft doch immer an, wenn er weg ist.«
»Er hat heute angerufen«, log Ruthie. »Es geht ihm gut.«
»Warum hat er angerufen, als ich in der Schule war? Ich möchte auch mit ihm reden.«
»Liebling, es ist so schwierig, von Teheran aus durchzukommen, die Leitungen sind überbelastet, da muß er eben anrufen, wenn es gerade geht.«
»Ach so.«
Karen stellte den Fernsehapparat an, und Ruthie setzte sich nieder. Draußen wurde es langsam dunkel. Sie fand es zunehmend schwieriger, jedermann Lügen über Paul zu erzählen. Aus diesem Grund war sie auch von Chicago nach Dallas gezogen. Es war unmöglich geworden, noch länger bei ihren Eltern zu wohnen und das Geheimnis vor ihnen zu verbergen.
Ihre Mutter fragte dauernd: »Warum rufen Ross und die anderen EDS-Leute immer bei dir an?«
»Sie wollen bloß wissen, ob es uns gutgeht, weißt du«, antwortete Ruthie und rang sich ein Lächeln ab.
»Das ist aber nett von Ross.«
Hier in Dallas konnte sie wenigstens mit den EDS-Leuten offen reden. Außerdem stand jetzt fest, daß die Niederlassung im Iran geschlossen werden und Paul amStammsitz der Firma arbeiten sollte. Zumindest eine Zeitlang würden sie also in Dallas wohnen, und Karen und Ann Marie müßten ohnehin die Schule wechseln.
Sie waren bei Jim und Cathy Nyfeler untergekommen. Cathy war ihr eine große Hilfe. Sie sorgte dafür, daß Ruthie ständig beschäftigt war und nicht die Fassung verlor. Sie hatte Karen in der Schule angemeldet und für Ann Marie einen Platz im Kindergarten gefunden. Mit Cathy und anderen Frauen von EDS-Mitarbeitern ging sie zum Essen aus – mit Mary Boulware, Liz Coburn, Mary Sculley, Marva Davis und Toni Dvoranchik. Sie schrieb heitere, zuversichtliche Briefe an Paul und hörte sich seine heiteren, zuversichtlichen Antworten an, die ihr von Keane Taylor durchs Telefon vorgelesen wurden. Sie ging einkaufen und nahm Einladungen zu Dinner-Partys an. Eine Menge Zeit hatte sie auch auf der Suche nach einem Haus totgeschlagen.
Nach außen hin hielt Ruthie Chiapparone sich tapfer, aber innerlich ging sie langsam zugrunde.
Draußen fuhr ein Wagen vor. Das mußte Jim sein, der von der Arbeit kam; vielleicht brachte er Neuigkeiten mit.
Kurz darauf trat er ein. »Hallo, Ruthie. Cathy nicht da?«
»Sie ist beim Friseur. Gibt’s was Neues?«
»Nun ja ...«
Sie las ihm vom Gesicht ab, daß er nichts Gutes zu berichten hatte und nach passenden Worten suchte.
»Nun, sie hatten ein Treffen vereinbart, um über die Kaution zu reden, aber die Iraner sind gar nicht erst erschienen. Morgen ...«
»Aber wieso ?« Ruthie kämpfte gegen die in ihr aufsteigende Panik an. »Wieso kreuzen die nicht auf, wenn sie schon solche Treffen vereinbaren?«
»Ach, weißt du, manchmal gibt’s einen Streik, und manchmal kommen sie einfach nicht durch die Stadt, weil ... wegen der Demonstrationen und so weiter ...«
Es kam ihr vor, als höre sie seit Wochen immer diegleiche Leier: Verzögerungen, Vertagungen, Enttäuschungen. »Aber, Jim ...«, fing sie an, dann kamen ihr die Tränen. Sie konnte sie nicht zurückhalten. »Jim ...« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte kein Wort mehr heraus. Ich will doch nur meinen Mann wiederhaben, dachte sie. Jim stand hilflos und verlegen daneben. Sie rannte aus dem Zimmer. In ihrem Schlafzimmer warf sie sich aufs Bett und schluchzte herzzerreißend.
*
Liz Coburn nippte an ihrem Drink. Ihr gegenüber saßen Mary Sculley und Toni Dvoranchik, die ebenfalls zu den Evakuierten gehört
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