Auf den Schwingen des Adlers
könnte ihm mein Hemd borgen, dachte Raschid und betrat spontan das Gebäude.
Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge im Erdgeschoß und gelangte zur Treppe. Ansonsten schien das Haus leer zu sein. Während er die Treppe hinaufging, fiel ihm ein, die Soldaten könnten sich in den oberen Stockwerken verbergen; dann würden sie auf jeden schießen, der heraufkam. Trotzdem ging er weiter. Unangefochten erreichte er die oberste Etage. Malek war nicht da. Es war überhaupt niemand da. Die Armee hatte vor dem Mob kapituliert.
Raschid ging wieder hinunter. Die Menge drängte sich um den Eingang zum Waffenarsenal im Kellergeschoß, aber keiner traute sich hinein. Raschid fragte: »Ist die Tür abgeschlossen?«
»Sie ist vielleicht mit einer Sprengladung gesichert«, gab einer zu bedenken.
»Das glaube ich nicht«, sagte Raschid und öffnete die Tür.
Er ging die Treppe hinunter.
Das Kellergeschoß war in zwei Räume aufgeteilt, die durch einen Bogengang verbunden waren. Direkt unter der Decke, auf gleicher Höhe mit der Straße, befanden sich schmale Luken, durch die spärliches Licht drang. Der Fußboden war mit schwarzen Mosaikfliesen gekachelt. In dem einen Raum standen offene Kisten voller Munition herum, im anderen lagerten Maschinengewehre vom Typ G3.
Nun trauten sich auch die Leute hinter ihm in den Keller hinunter.
Raschid griff sich drei Maschinengewehre und einen Beutel Patronen und verschwand. Kaum war er auf derStraße, wurde er von allen Seiten um Waffen bestürmt. Er gab zwei Gewehre und einen Teil der Munition ab.
Dann machte er sich auf den Weg zum Gasr-Platz. Ein Teil der Menge folgte ihm.
Unterwegs kamen sie an einer Kaserne vorbei, die noch umkämpft wurde. Eine Stahltür in der hohen Backsteinmauer, die das Gelände umgab, war niedergewalzt worden. Es sah aus, als sei dort ein Panzer durchgebrochen; das Mauerwerk war auf beiden Seiten eingestürzt. Quer zur Einfahrt stand ein brennendes Auto.
Raschid ging um den Wagen herum und betrat das Gelände. Er gelangte auf einen großen Kasernenhof, umgeben von einigen Männern, die mehr recht als schlecht auf ein mehrere hundert Meter entferntes Gebäude ballerten. Raschid ging hinter einer Mauer in Deckung. Die Männer, die ihm gefolgt waren, beteiligten sich sofort an der Schießerei. Er selbst bewahrte seine Munition für später auf. Keiner der Schützen zielte richtig. Sie versuchten lediglich, den Soldaten Angst einzujagen. Irgendwie wirkte die Schlacht direkt komisch. So hatte Raschid sich die Revolution nicht vorgestellt: Eine bunt zusammengewürfelte Menschenmenge mit Gewehren, die sie kaum zu bedienen wußte, spazierte an einem Sonntagmorgen durch die Gegend, ballerte auf irgendwelche Mauern und traf lediglich auf halbherzigen Widerstand unsichtbarer Truppen. Urplötzlich fiel ein Mann neben ihm tot zu Boden.
Das ging so schnell, daß Raschid nicht einmal sah, wie er umfiel. Gerade eben hatte er noch einen Meter neben Raschid gestanden und aus seinem Gewehr gefeuert – im nächsten Moment lag er schon mit zerschossenem Schädel am Boden.
Sie trugen die Leiche aus dem Hof. Irgend jemand organisierte einen Jeep. Sie legten den Toten hinein, der Wagen fuhr mit unbekanntem Ziel davon. Raschid wandte sich wieder dem Kampfgeschehen zu.
Ohne ersichtlichen Grund wurde zehn Minuten späteraus einem der Fenster des beschossenen Gebäudes ein Stück Holz mit einem daran festgeknoteten weißen Unterhemd geschwenkt. Die Soldaten ergaben sich.
Einfach so.
Plötzlich war die Spannung weg.
Das ist meine Chance, dachte Raschid.
War man erst einmal mit der Psyche der Menschen vertraut, dann war es leicht, sie zu manipulieren. Man brauchte sie nur zu beobachten, sich in ihre Lage zu versetzen und dann auf ihre Wünsche zu schließen. Diese Leute hier, entschied Raschid, wollen Abenteuer und Aufregung. Zum erstenmal in ihrem Leben haben sie ein Gewehr in der Hand, jetzt brauchen sie nur noch ein Ziel, irgendein Symbol für das Regime des Schahs.
Im Augenblick standen sie unschlüssig herum und wußten nicht weiter.
»Hört mal zu!« brüllte Raschid.
Alle hörten zu – sie hatten ohnehin nichts Besseres zu tun.
»Ich gehe jetzt zum Gasr-Gefängnis!«
Irgendwer johlte.
»Die, die dort drinsitzen, sind Gefangene des Regimes – und wenn wir gegen das Regime sind, dann müssen wir sie befreien!«
Zustimmende Rufe aus der Menge.
Raschid setzte sich in Bewegung.
Und sie folgten ihm.
Mit dieser Einstellung, dachte Raschid, laufen sie jedem
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