Auf den Schwingen des Adlers
an alles. Egal, wieviel Angst man hat – am Ende fordert der Körper sein Recht, und man nickt ein.
Er betete einen Rosenkranz.
Er wusch und rasierte sich, putzte die Zähne und zog sich an. Dann setzte er sich ans Fenster, wartete auf das Frühstück und fragte sich, was EDS wohl heute vorhatte.
Paul wachte gegen sieben Uhr auf. Er sah zu Bill hinüber und sagte: »Konntest wohl nicht schlafen?«
»Freilich hab’ ich geschlafen«, sagte Bill. »Ich bin erst seit ungefähr einer Stunde auf.«
»Ich hab’ nicht gut geschlafen. Die Schießerei ging fast die ganze Nacht durch.« Paul stand auf und ging ins Badezimmer.
Wenig später kam das Frühstück: Brot und Tee. Bill öffnete eine Dose Orangensaft, die Keane Taylor ihnen mitgebracht hatte.
Gegen acht fing die Knallerei wieder an.
Die Gefängnisinsassen stellten Spekulationen darüber an, was draußen wohl vor sich ging, doch keiner wußte etwas Genaues. Alles, was sie sehen konnten, waren Helikopter, die durch die Luft schwirrten und offensichtlich die Stellungen der Revolutionäre beschossen. Jedesmal, wenn einer von ihnen über das Gefängnis flog, hielt Billnach einer Strickleiter Ausschau, die aus dem Himmel in den Hof des Gefängnistrakts Nr. 8 hinabgelassen wurde. Ein ständig wiederkehrender Tagtraum. Manchmal malte er sich auch aus, wie eine kleine Gruppe von EDS-Leuten, angeführt von Coburn und einem älteren Mann, mit Strickleitern über die Gefängnismauer kamen; oder wie eine starke Einheit der amerikanischen Armee in letzter Minute mit Dynamit ein riesiges Loch in die Mauer sprengte.
Aber er hatte mehr vollbracht, als nur vor sich hin zu träumen. In seiner ruhigen, unverfänglichen Art hatte er jeden Zentimeter des Gebäudes und des Hofes inspiziert und den schnellsten Fluchtweg unter allen erdenklichen Begleitumständen abgeschätzt. Er wußte, wie viele Wachmänner es gab und wie viele Gewehre sie hatten. Was immer auch passieren mochte, er war bereit.
Es schien fast so, als sei heute der Tag X.
Die Wärter hielten sich nicht an den regulären Tagesablauf, der in einem Gefängnis alles bestimmt. Ein Gefangener, der ohnehin nichts anderes zu tun hatte, brauchte nur wenig Beobachtungsgabe, um rasch mit der Tageseinteilung vertraut zu werden. Und heute war eben alles anders. Die Wächter wirkten nervös, standen flüsternd in Ecken herum und hasteten ziellos umher. Das Schlachtgetöse von draußen nahm zu. Konnte ein solcher Tag enden wie jeder andere auch? Vielleicht können wir fliehen, dachte Bill, vielleicht werden wir aber auch getötet – aber eins tun wir heute abend bestimmt nicht: einfach den Fernseher abdrehen und uns in unsere Kojen verkriechen. Gegen halb elf sah er, wie die meisten Offiziere über das Gefängnisgelände gen Norden gingen, als wollten sie zu einem Treffen. Eine halbe Stunde später kamen sie zurückgehastet. Der Major, dem Gebäude Nummer acht unterstand, begab sich in sein Büro. Ein paar Minuten später tauchte er wieder auf – in Zivil! Er trug ein unförmiges Paket – seine Uniform? – und verließ dasGebäude. Bill beobachtete durch das Fenster, wie er das Paket im Kofferraum seines BMW verstaute, der außerhalb des Hofs vor dem Zaun geparkt war, dann einstieg und davonfuhr.
Was hatte das zu bedeuten? Würden sich womöglich alle Offiziere aus dem Staub machen?
Das Mittagessen kam schon vor zwölf Uhr. Paul aß mit Appetit, Bill hatte keinen Hunger. Die Schüsse schienen nun ganz in der Nähe zu fallen, und von den Straßen drangen Geschrei und Gesang zu ihnen herauf.
Drei der Aufseher von Trakt Nummer acht trugen plötzlich Zivil.
Das mußte das Ende sein.
Paul und Bill gingen in den Hof hinunter. Die Insassen der psychiatrischen Abteilung schrieen wie am Spieß. Jetzt feuerten die Wächter von den Türmen auf die Straße hinunter. Das Gefängnis wurde offenbar angegriffen.
Ist das nun gut oder schlecht für uns? fragte sich Bill. Wußte EDS, was hier vorging? Gehörte es vielleicht sogar zu Coburns Plänen? Zwei Tage lang hatten sie keinen Besuch gehabt. Waren die anderen alle in die Staaten zurückgeflogen? Lebten sie überhaupt noch?
Der Posten, der sonst immer am Hoftor Wache schob, war weg und das Tor stand offen!
Wollten die Wärter vielleicht, daß die Gefangenen sich aus dem Staub machten?
Auch in anderen Zellentrakten mußten die Türen offenstehen, denn jetzt hatten sich zu den auf dem Gelände herumlaufenden Aufsehern auch Gefangene gesellt. Kugeln pfiffen durch die Bäume und
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