Auf Den Schwingen Des Boesen
fühlte mich, als hätte ich seit Tagen nicht mehr geschlafen.
Als ich mich zur Seite drehte und etwas sagen wollte, war Will aus dem Auto verschwunden. Vor lauter Enttäuschung wäre ich am liebsten sitzen geblieben, aber ich zwang mich, die Tür zu öffnen und auszusteigen. In der Haustür erhielt ich eine Nachricht von Kate. Mein Akku war fast leer, doch ich konnte den Text noch lesen.
Hab dich lieb.
Ich lächelte matt und schob das Handy zurück in die Tasche. Aus dem Wohnzimmer hörte ich den Fernseher und wollte schon durch die Küche schleichen, um meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, aber es war zu spät.
»Ellie Bean?«, rief mich meine Mom bei meinem alten Kosenamen. »Schon zu Hause?«
Ich seufzte und trat ins Wohnzimmer. Gott sei Dank war von meinem Vater nichts zu sehen. Sie saß mit einer Tasse Tee auf dem Sofa.
»Hallo, Mom«, sagte ich.
»Was ist los, mein Schatz?«, fragte sie und streckte mir die Arme entgegen, als Aufforderung, mich zu ihr zu gesellen.
Ich ließ mich neben ihr aufs Sofa fallen, worauf sie ihre Tasse abstellte und mich in den Arm nahm. Ich kuschelte mich an sie und genoss die tröstliche Wärme ihres weichen Bademantels. Auf dem Kaminsims brannten ein paar übrig gebliebene Weihnachtskerzen und verbreiteten ihren Duft im Raum.
»Der Abend hatte kein schönes Ende«, sagte ich seufzend und legte den Kopf in ihren Schoß.
Sanft streichelte sie mein Haar, wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war. »Tut mir leid, Ell. Du siehst so hübsch aus in deinem Kleid.«
»Danke.«
»War Will auch da?«
»Ja.«
»War er gemein zu dir?«
»Nein«, sagte ich. »Kein bisschen. Es ist nur ein bisschen … kompliziert zwischen uns.«
»Willst du darüber reden?«
»Nicht heute Abend. Was guckst du da?« Auf dem Bildschirm waren Tausende von silbrigen Fischen, die alle gleichzeitig die Richtung wechselten. Ihre Perfektion war wunderschön, die Symmetrie ihrer Bewegungen hatte etwas Hypnotisierendes. Aus meiner liegenden Position starrte ich auf den Bildschirm und lauschte sanften Klavierklängen, während die Fische im sonnendurchfluteten blauen Wasser ihr anmutiges Ballett aufführten. Sanft wie eine Feder strichen die Finger meiner Mutter mir über Wangen und Haare, und ich fühlte mich wieder wie ein kleines Mädchen, von ihren Berührungen getröstet.
»Ich hab dich lieb, Mom«, sagte ich leise.
»Ich dich auch, mein Liebling.«
Ich blieb stumm und schaute wieder auf den Bildschirm, wo ein Taucher durch die Wand aus silbernen Schuppen und Flossen glitt. Ich ließ mich treiben und wollte vergessen, wie todtraurig ich war, wollte alles vergessen. Der Fischschwarm entfernte sich kurz von dem gesichtslosen Taucher und fing an, spiralförmige Kreise um ihn zu drehen, wie ein Wirbel aus glitzernden Sternen.
Als ich in mein Zimmer kam, saß Will auf meinem Bett. Er hatte sein langärmeliges Hemd abgelegt und trug nur noch Jeans und T-Shirt. Er sah auf, und unsere Blicke trafen sich kurz. Ich setzte mich neben ihn und versuchte sein zerzaustes Haar zu glätten. Dabei fiel mein Blick auf die Silberkette, die er immer um den Hals trug. Ich ließ das Kettchen durch die Finger gleiten und zog den Kreuzanhänger aus dem Halsausschnitt seines T-Shirts. Das silberne Kruzifix weckte liebevolle Erinnerungen, von denen mir das Herz schwer wurde. Mein Blick wanderte zu seinen Tattoos. Ich ließ die Hand über die feinen Tintenzeichnungen gleiten, die sich über Hals und Arme zogen. Bei meiner Berührung zogen sich die feinen Muskeln unter seiner Haut zusammen, während er mich schweigend ansah. Mit den Fingerspitzen zog ich all die verschlungenen Linien nach, und als eine weitere Erinnerung hochkam, senkte sich eine zentnerschwere Traurigkeit auf mein Herz. Ich erkannte, dass es sich um jene alte Engelssprache handelte, die ich vor langer Zeit vergessen hatte, und dass es mein wahrer Name war, der in seine Haut tätowiert worden war. Ich strich mit dem Finger über den Schriftzug, worauf er erbebte und tief Luft holte.
»Das ist mein Name«, flüsterte ich. »Ich erinnere mich jetzt. Die Sprache deiner Tätowierung, die dich schützt, ist mein Siegel. Es bindet dich an mich und bedeutet, dass du mir gehörst. Es ist mein Name.«
Sein Blick folgte meinen Fingern und wanderte dann nach oben, bis wir uns in die Augen sahen. »Gabriel«, sagte er, und seine Lippen streiften mein Ohr.
Ich unterdrückte eine Träne, als er meinen Namen aussprach und meine bloße Schulter küsste. Ich legte
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