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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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rückte seinen steifen Hemdkragen gerade. In fünf Minuten mußte er los, um Melanie Grayson abzuholen. Sie war seine Lady Macbeth; gemeinsam würden sie zum Dorothy-Chandler-Pavillon fahren, wo die Verleihungszeremonie stattfand. Er starrte in den Spiegel: er konnte das Gesicht nicht recht einordnen, das er dort sah. Ihm war klar, daß die größte schauspielerische Leistung seines Lebens nicht jene sein würde, für die er heute vielleicht einen Oscar bekam. Viel schwerer würde es werden, heute abend vor Tausenden von Zuschauern so zu tun, als würde es ihm etwas bedeuten, ob er gewann oder nicht.
    Herb erwartete ihn unten mitsamt einer weißen Mercedes-Limousine. »Ich sag’ dir, heut hab’ ich Sodbrennen.« Er grinste Alex an. »Hast du mit Cassie geredet?«
    »Ich habe eben mit ihr telefoniert«, log er. »Sie wünscht mir Glück.«
    »Ach, Glück.« Herb winkte ab. »Du hast sie doch schon in der Tasche. Zu dumm, daß sie’s nicht geschafft hat herzukommen, und wenn es nur für eine Nacht gewesen wäre. Aber ich weiß, wie man sich in so einer Situation fühlt; man möchte sie nicht mal eine Minute allein lassen.«
    Alex nickte. »Sie sagt, wenn ich gewinne, wendet sich bei ihrem Vater vielleicht doch noch alles zum Guten.«
    »Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte Herb, dann schubste er Alex zur Tür. »Holen wir Melanie ab, und dann auf zum Tanz!«
    Alex stieg nicht einmal aus, als sie in der Auffahrt zu Melanies Haus anhielten; das hier war keine Verabredung, und er wollte keinen falschen Eindruck aufkommen lassen. Er überließ es Herb, Melanie von der Haustür zum Mercedes zu eskortieren, wo Alex sie bereits mit einem Glas Champagner erwartete. »Du siehst bezaubernd aus«, sagte Alex, da er wußte, daß das von ihm erwartet wurde.
    Melanie strich den weißen Satinrock glatt, der sie umhüllte wie eine Schlangenhaut. »Dieser alte Fetzen?« fragte sie kokett. Alle wußten, daß sie eine exorbitante Summe für das pompöse Kleid ausgegeben und danach versucht hatte, sich das Geld von der Macbeth-Produktionsgesellschaft erstatten zu lassen. Zur Begründung hatte sie erklärt, sie hätte längst nicht so viel Wert auf ihr Aussehen legen müssen, wenn sie nicht neben Alex gesessen hätte, auf den sich an jenem Abend mindestens dreimal die Kameras richten würden.
    Er starrte aus dem Fenster, als der Verkehr ein paar Blocks vor dem Pavillon allmählich zum Erliegen kam. Cassie hätte niemals so ein Kleid getragen. Natürlich hätte auch sie ein Modellkleid getragen; aber etwas ebenso Schlichtes wie Schönes. Genau wie sie.
    Er merkte, wie er immer wütender auf Melanie wurde, während der Wagen langsam vorwärtskroch. Ihr Bein preßte sich zu fest an seines; ihr Haar hatte die falsche Farbe; sie trug ein anderes Parfüm als Cassie. »Bist du nervös?« schnurrte sie und streichelte seinen Unterarm.
    Alex antwortete nicht. Er starrte die Hand auf dem Ärmel seines Sakkos an wie eine Tarantel.
    »Kinder, Kinder«, bellte Herb von dem Sitz ihnen gegenüber. »Gebt euch einen Kuß und vertragt euch wieder. Vergeßt nicht, das hier ist Eins-A-Publicity.«
    Alex wußte, daß Herb recht hatte; es kursierten inzwischen so viele Gerüchte über die Unterbrechung der Dreharbeiten zu Macbeth, daß Alex allmählich an die Hölle erinnert wurde, durch die er mit Antonius und Kleopatra gegangen war. Vielleicht hatte er mit Shakespeare einfach kein Glück.
    »Ja, Alex«, hauchte Melanie, Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. »Geben wir uns einen Kuß und vertragen wir uns wieder.«
    Alex drehte den Ehering an seinem Finger. Das hatte er sich seit kurzem angewöhnt, so als sei er eine notwendige Gedächtnisstütze. Wenn du gewinnst, ermahnte er sich, dann spring auf keinen Fall auf und umarme sie, was auch passiert.
    Herb tätschelte Melanies Knie. »Laß ihn in Ruhe«, seufzte er. »Er grübelt wieder.«
    »Ich weiß«, antwortete Melanie rauchig. »Genau das lieben wir ja so an ihm.«
    Alex ignorierte ihr oberflächliches Geschwätz, bis ihre Limousine vor den Eingang rollte. »Bereit für die Hyänen, Liebling?« fragte Melanie und ließ ihre Puderdose zuschnappen.
    Alex trat als erster in die Nachmittagssonne. Er blinzelte und hob die Hand, halb zum Winken, halb um sich die Augen abzuschirmen. Er streckte die Hand in die Tiefen der Limousine, um Melanie herauszuhelfen, und beobachtete, wie sie ein Lächeln erstrahlen ließ, das heller als der Scheinwerfer auf dem Wachtturm eines Hochsicherheitstraktes war. Sie legte

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