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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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zurück, oder?«
    Cassies Gesicht sank in sich zusammen, und einen grauenvollen Augenblick lang fürchtete Will, sie würde gleich weinen. Aus heiterem Himmel fiel ihm ein, wie damals, in der zweiten Klasse, ein Neuer in seine Schule gekommen war. Horace war nur zu einem Viertel indianisch, und Will hatte sich mit ihm angefreundet. Er hatte das Gefühl gehabt, Horace etwas schuldig zu sein, da er die Sündenbockposition für ihn übernahm. Und es funktionierte: Dieselben Burschen, die mittags seine Sandwiches in den Dreck getreten und seine Stifte zerbrochen hatten, wollten jetzt mit ihm Baseball spielen und luden ihn übers Wochenende ein. Will konnte sich noch an das warme Glühen in seinem Bauch erinnern, als er begriff, daß er endlich akzeptiert wurde, und ehe er sich’s versah, war er genau wie die anderen. Es fiel ihm nicht einmal auf, bis er sich eines Tages nach der Schule hinter ein paar Bäumen versteckte und auf Horace wartete, der gleich um die Ecke kommen mußte. Gemeinsam mit den anderen Kindern warf er mit Steinen und Zweigen, bis Horace floh.
    Aber erst, nachdem Will ihm in die Augen gesehen hatte. Horace hatte nur Will angesehen, niemanden sonst, so als würde er laut und deutlich sagen: Du auch?
    Will schüttelte den Kopf, um ihn freizubekommen. Er wußte nicht recht, was das mit Cassie zu tun hatte, abgesehen von dem schrecklichen Gefühl, mit dem ihm damals klargeworden war, wie sehr er jemanden verletzt hatte, der ihm nicht das geringste getan hatte. »Hey«, sagte er, um die Stimmung aufzuhellen. Er nickte in Richtung Fernseher. »Du verpaßt noch deine Show.«
    Wie gewünscht hatte der Barkeeper eine Viertelstunde vor der Übertragung der Oscarverleihung umgeschaltet. Will hatte nicht die leiseste Ahnung, was davor lief; wahrscheinlich irgendeine dämliche Comedy-Serie. Aber über seinem Kopf schwebte Alex Rivers’ riesiges Gesicht, und neben Alex auf der Couch saß Cassie selbst.
    »Das Barbara-Walters-Interview«, murmelte Cassie. Sie umklammerte ihre Papierserviette so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten und das nasse Papier in der Mitte durchriß. Dann begann sie, hysterisch zu lachen. »Er sollte an zweiter Stelle kommen. Nicht zuletzt. Als zweiter.«
    Tausend Gedanken schössen ihr durch den Kopf: Was wäre passiert, wenn er gewußt hätte, daß sein Interview zum Schluß ausgestrahlt wird? Hätten sie sich dann nie gestritten? Hätte sie dann vielleicht gar nicht weglaufen müssen? Sie starrte auf die vertrauten Vorhänge in ihrem Wohnzimmer, auf den Sturm, der an den Azaleenbüschen draußen zerrte. Sie betrachtete den Lilienstrauß, den ein Ausstatter aus Barbara Walters’ Crew auf den Couchtisch gestellt hatte, wo sonst immer ein großes Buch mit Titelblättern des New Yorker lag.
    Aber vor allem sah sie Alex an, der neben diesem Schatten ihrer selbst saß, frisch und gut rasiert wie jeden Morgen, wenn er aus dem Bad kam und ihr den Atem raubte. Auf dem Bildschirm wanderte seine Hand ruhelos über ihre Schulter. Eben erzählte er der Welt, daß Alex Rivers und seine Frau Sonntag morgens im Bett Zeichentrickfilme ansahen.
    O Gott, Alex. Cassie kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen steigen wollten. Sie mußte sich beherrschen, um nicht aufzustehen und die Finger auf den Bildschirm zu legen, als könnte sie so sein warmes Fleisch spüren. Erst jetzt merkte sie, wie sehr er ihr fehlte.
    Dann hörte sie ihre eigene Stimme. Cassie blinzelte und zwang sich, nicht mehr Alex’ Reaktion, sondern ihren eigenen Mund zu beobachten, aus dem die Worte kamen. Sie rutschte nervös auf dem Stuhl herum. Ihre Stimme klang so komisch, gar nicht wie sie selbst. »Ich dachte damals, wahrscheinlich ist er ein aufgeblasener Wichtigtuer, der jedem beweisen muß, daß er das Sagen hat«, hörte Cassie sich reden, »und, ganz ehrlich, anfangs hat er mich da nicht enttäuscht.« Sie merkte, wie Alex’ Augen kurz aufblitzten, als sie den Satz beendete. Es klang wirklich so, als wäre er ein Idiot. Obwohl inzwischen Wochen vergangen waren, zuckte Cassie zusammen. Sie fragte sich, ob alle anderen diesen Zornesblitz so dicht unter der Oberfläche mitbekommen hatten; ob sie sahen, daß sie sich ein bißchen nach links drehte, weg von ihrer verletzten Seite; ob sie den Schatten des blauen Flecks unter dem durchschimmernden Ärmel ihrer Bluse bemerkten.
    Sie hatten das meiste von Cassies Redezeit rausgeschnitten. Und Barbara Walters schloß das Interview mit der Happy-End-Frage an Alex: Warum

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