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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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die nußbraunen Sioux-Babys waren, wie sich ihr runder Bauch in den Schlammpfützen spiegelte, wie sich die Sonne in den Zweigen der Bäume verfing und wie die Stille klang.
    »Kommst du mit oder nicht, wasicun winyan?«
    Dorotheas Stimme riß die am Fenster sitzende Cassie aus ihren Gedanken. Dorothea war ihr immer noch nicht geheuer, aber sie wollte aus dem Haus. »Gerne«, sagte sie, schlüpfte in ihren Mantel und knöpfte ihn mühsam über dem Bauch zu. Dorothea hatte heute ihren freien Tag, und da der Boden schon halbwegs aufgetaut war, wollte sie ihre Wurzel- und Kräutervorräte auffrischen.
    In den vergangenen Wochen hatte Cassie die beiden besser verstehen gelernt. Und wenn Cyrus und Dorothea sie auch nicht gerade freundlich behandelten, so mieden sie Cassie doch nicht; im Gegenteil, beide gaben sich alle Mühe, sie vorzustellen, wenn die Menschen im Ort sie neugierig musterten. Cassie begann langsam zu begreifen, daß hier vieles anders war – daß ein Mann möglicherweise dasselbe Hemd fünf Tage hintereinander trug, weil es sein einziges war; daß die Mütter ihre Kinder eher mit Marshmallows und Orangenlimo fütterten als mit Vollkornprodukten und Milch. Ihr Tagesrhythmus, der sich einst an festen Essens- und Schlafenszeiten orientiert hatte, hatte sich dem indianischen angenähert: man aß, wenn man hungrig war, und ruhte sich aus, wenn man es für nötig hielt. Und sie gewöhnte sich allmählich an die Wortkargheit der Lakota. Ihr war inzwischen klar, daß die Lakota im Gegensatz zu den Weißen, die jede Gesprächspause mit Geschnatter zu überbrücken suchten, es ganz normal fanden, nichts zu sagen. Und so wanderte Cassie schweigend neben Dorothea durch den Wald, lauschte dem Wind und dem trockenen Gras, das unter ihren Füßen knirschte.
    » Waqldka he? Siehst du den da?« rief Dorothea. Sie deutete auf einen vertrauten, noch unbelaubten Baum.
    »Die Zeder?« Cassie hatte das Gefühl, auf die Probe gestellt zu werden.
    Dorothea nickte beeindruckt. »Jetzt ist es noch zu früh, aber wir kochen die Früchte und Blätter und trinken die Medizin gegen Husten.«
    Während der nächsten anderthalb Stunden hörte Cassie zu, wie Dorothea sie in eine uralte Heilkunst einführte. Manche Kräuter hielten noch Winterschlaf: Rohrkolben, den man wie Gaze verwenden konnte; Kalmus gegen Fieber und Zahnschmerzen; Ulme als Abführmittel; wilde Verbene gegen Bauchweh. Dorothea legte die Wurzeln der roten Scheinmalve frei, die sie zu einer Sonnenbrand- und Wundsalbe verarbeiten würde. Sie pflückte Petersstrauch, weil der Cyrus’ müden Augen guttat.
    Als sie sich gegen den Stamm einer Pappel sinken ließ, ohne sich daran zu stören, daß die Feuchtigkeit durch ihre Polyesterhose drang, machte Cassie es ihr nach. »Ich wußte gar nicht, daß du eine Medizinfrau bist«, sagte sie.
    Dorothea schüttelte den Kopf. »Das bin ich nicht. Ich weiß nur ein paar Sachen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Außerdem gibt es vieles, wogegen ich nichts tun kann. Dafür gibt es den Medizinmann. Wir haben Joseph Stands In Sun - Cyrus hat dich letzte Woche im Ort mit ihm bekanntgemacht. Es gibt auch Krankheiten, die hier sitzen« - sie zeigte auf ihr Herz - »und es gibt andere Krankheiten, die man nicht heilen kann.«
    »Du meinst Krankheiten wie Krebs«, sagte Cassie.
    »Hiyä«, entgegnete Dorothea finster. »Das ist bloß etwas Böses im Körper. Marjorie Two Fists ist nach Rapid City gefahren und hat sich den Krebs aus ihrer Brust schneiden lassen, und ihr geht es gut, schon seit Jahren. Ich rede über das Böse. In der ton. Der Seele.« Sie fixierte Cassie. »Das Volk glaubt, daß ein Kind entweder gut oder böse geboren wird. Und dabei bleibt es. Bis zur Geburt kann man noch etwas ändern, aber später nicht mehr. Und aus einem bösen Baby wird schließlich ein böser Mensch.«
    Dorotheas Blick bohrte sich in Cassies Augen, bis sie sich abwandte. Sie lebte in einer Gesellschaft, in der die Kinder anderer Menschen als Geschenk betrachtet wurden, das auch dem eigenen Haus Glück brachte - wie sollte sich Dorothea da auch nur vorstellen können, daß es Väter gab, die ihre Söhne ablehnten? Mütter, die sie einfach vergaßen? Cassie hätte Dorothea gern erklärt, daß ihr Mann nicht böse geboren worden war; daß man ihm das nur so lange eingebleut hatte, bis er es schließlich selbst glaubte.
    Ein kalter Wind setzte sich im Dickicht fest und verwehte Cassies Gedanken. Sie warf einen Blick auf Dorotheas prall gefüllte Schürze.

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