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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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es war allgemein bekannt, daß es auf dem Parkplatz beängstigend oft zu Messerstechereien und Vergewaltigungen kam und daß sich die Polizei lieber zurückhielt, als Fragen zu stellen. Hinter der verkratzten Bar hing ein altes, verblichenes Schild, Lei Lakota Kin lyokipisni, »Kein Zutritt für Sioux«. Es war in der Mitte von einem Tomahawk gespalten, der in dem Sparren dahinter feststeckte.
    Abgesehen von Cassie waren keine Weißen und nur eine Handvoll Frauen in der Bar. Nervös trippelte sie hinter Will her und versuchte, die herausfordernden Blicke zu ignorieren, die sie auffing. Sie folgte ihm an einen Ecktisch, von wo aus man ungehindert auf den Fernseher blicken konnte. Ihr Stuhl klemmte neben der Musikbox, aus der Loretta Lynn trällerte. Cassie legte ihre Hand auf die beleuchtete Tastatur und sah, wie ihre Fingerspitzen rosa zu glühen begannen.
    »Sie schauen sich Hockey an«, sagte Cassie. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß jemand nicht die Oscarverleihung ansehen wollte. Was vielleicht auf L. A. zutraf, aber nicht auf Pine Ridge, wo das nächste Kino eine Stunde entfernt war.
    Will starrte geistesabwesend auf das verschneite Bild, wo ein Puck über das graue Eis flitzte. »Überlaß das mir«, sagte er. Er stand auf und schwang, wie ein Cowboy beim Absitzen, ein Bein über die Rückenlehne. Dann ging er an die Bar und stützte die Ellbogen auf den klebrigen Holztresen. »Hau, köla«, sagte er, um den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen.
    Der Barkeeper war rund wie ein Faß und trug sein Haar in zwei langen schwarzen Zöpfen, die an den Enden mit Schnürsenkeln zusammengebunden waren. Er trocknete gerade ein Whiskeyglas. »Was kann ich für dich tun?« fragte er gelangweilt.
    »Ich brauche ein Rolling Rock und ein Glas Wasser«, sagte Will. »Und die Lady hätte gern ein anderes Programm.«
    »Vergiß es«, knurrte der Barkeeper und öffnete eine eisgekühlte Flasche an der Tresenkante. »Drei Dollar.«
    Will hatte nichts anderes erwartet. Er reichte dem Barkeeper einen Fünfzigdollarschein, der direkt aus seiner Lohntüte stammte - etwas, was der Mann neben ihm wahrscheinlich noch nie gesehen hatte. »Wenn du um neun auf ABC umschaltest«, sagte Will, »kannst du das verdammte Wechselgeld behalten.«
    Als er Cassie ihr Wasser brachte, saß sie nur noch auf der Stuhlkante. »Werden sie es anschauen?« Ihre Stimme klang dünn und atemlos.
    »Kein Problem.« Will tippte mit dem Hals seiner Bierflasche gegen Cassies Glas, um ihr zuzuprosten. Auf wundersame Weise tat ihr dieses Höllenloch in South Dakota gut. »Man hört, du wirst langsam eine große Indianerin«, sagte er.
    Cassie wurde rot. »Danke«, antwortete sie.
    Will lachte. »Die meisten Lakota würden mir für so eine Beleidigung eine runterhauen«, erklärte er. »Es war kein Kompliment.«
    Cassie rollte das Glas zwischen den Händen und funkelte Will wütend an. »Wenigstens versuche ich, mich einzufügen«, bemerkte sie spitz.
    Im Gegensatz zu dir. Der unausgesprochene Vorwurf hing zwischen ihnen in der Luft, und Will, der geglaubt hatte, sein antrainiertes dickes Fell würde ihn schützen, erkannte erschrocken, wie sehr ihn Cassies unausgesprochene Vorwürfe trafen. Sein Großvater war halb in sie verliebt; seine Großmutter redete ständig über sie. Es traf ihn, daß jemand ohne jedes Sioux-Blut in den Adern so schnell eine Nische finden konnte, wo er nie auch nur einen Zeh auf den Boden bekommen hatte.
    Will kniff die Augen zusammen und tat, was ihm in all den Jahren in Pine Ridge als Mensch zweiter Klasse zur zweiten Natur geworden war: er schlug zurück. Er nickte langsam, als habe er schon länger über Cassies Tagesablauf nachgedacht. »Die Alten wünschen sich schon, alle wasicun wären wie du. Ziehst mit Cyrus herum; fragst den Medizinmann über Beeren und Wurzeln aus. Eine richtige kleine Squaw.«
    Cassie reckte das Kinn vor. Sie war nicht gewillt, sich ausgerechnet vor dem Menschen zu rechtfertigen, der sie hierhergebracht hatte. »Was soll ich denn den ganzen Tag machen? Auf dem Sofa liegen und zuschauen, wie meine Taille verschwindet? Außerdem ist es ein bißchen wie bei den Pfadfindern - Überlebenstraining im Wald und so weiter. Es kann nützlich sein, so was zu wissen. Angenommen, ich würde mich im Wald verlaufen und mir den Fuß verstauchen –«
    »Angenommen, es gäbe einen Wald in L. A. und alle Nachtapotheken hätten zu?« Will schnaubte und leerte sein Bier in einem langen Zug. »Du willst doch

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