Auf den zweiten Blick
schweißüberströmt; er hatte von ihr geträumt. So verrückt es klang, sie hatte zu den Jagdfüchsen gehört, einer Kriegergemeinschaft aus vergangenen Zeiten. Jeder Siouxjunge hatte von den Jagdfüchsen oder den Starken Herzen gehört und sich gewünscht, das Volk sei immer noch im Krieg mit den Chippewa, so daß auch er seinen Mut unter Beweis stellen könnte. Die Jagdfüchse waren die Tapfersten von allen. Ihr Kennzeichen war eine rote Schärpe; wenn sie diese Schärpe am Boden festmachten, dann bedeutete das, daß sie an dieser Stelle kämpfen würden, bis sie gesiegt hatten oder starben oder von einem Freund befreit wurden. Will wußte noch, wie er in der Pause hinter der Schule Jagdfuchs gespielt hatte. Einmal hatte er den Schal seiner Großmutter als Schärpe genommen und sich damit einen Monat Hausarrest eingehandelt.
In seinem Traum war Cassie hochschwanger gewesen und hatte die Schärpe ganz oben getragen, direkt unter ihren Brüsten. Aus der Ferne verfolgte Will, wie sie ihren Stab mit der Schärpe in die weiche Erde steckte und zu singen begann.
Ich bin ein Fuchs.
Ich bin zum Sterben bestimmt.
Ist etwas schwierig,
Ist etwas gefährlich,
Dann werde ich es tun.
Aus dem Nichts tauchte Alex Rivers auf, umkreiste sie, kam immer näher. Er boxte Cassie an den Kopf, und von seinem Beobachtungsposten aus rief Will ihr zu, sie solle weglaufen, aber sie rührte sich nicht. Sie blieb stehen, auch wenn ihr die Schläge Tränen in die Augen trieben.
Will träumte, daß er aus Leibeskräften schrie und zu rennen begann, auf den Fleck zu, wo Cassie stand. Ohne langsamer zu werden, bückte er sich, riß ihren Stab aus der Erde, schlang seinen Arm um ihre Taille und zwang sie, genauso schnell zu laufen wie er.
Vollkommen außer Atem wachte er auf, wütend und ein bißchen erstaunt, daß Cassie nicht einmal einen Meter von ihm entfernt lag und im Schlaf die Fäuste ballte und wieder öffnete. Leise und im Rhythmus des Schnarchens, das durch den Vorhang drang, stand er auf und setzte sich auf die Sofakante.
Cassie war wach, noch bevor er sich richtig hingesetzt hatte. Will legte einen Finger auf ihre Lippen und deutete dann in Richtung Vorhang. »Morgen fahre ich«, flüsterte er.
Cassie wollte sich aufsetzen, aber Will legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie zurück in die Matratze.
»Warum?«
»Weil ich einen Job in L. A. habe. Weil ich es hier nicht aushalte.« Will verzog das Gesicht. »Du kannst es dir aussuchen.«
Sie hätte wissen müssen, daß es dazu kommen würde; er hatte nie einen Hehl daraus gemacht. Aber zu seinem Entsetzen schluckte Cassie ein Schluchzen hinunter. »Du kannst mich hier doch nicht alleinlassen«, flüsterte sie, wohl wissend, daß er es konnte und auch tun würde.
Als sie sich von ihm abwandte, strich er schuldbewußt mit der Hand über ihre Stirn. Cassie war klein und schlicht, das nette Mädchen von nebenan; er hatte Hunderte von Frauen gesehen, die hübscher waren als sie. Er fragte sich, was diese Frau wohl an sich hatte, das ihn seine festen Absichten vergessen ließ; das einen Filmstar dazu brachte, sie zu heiraten.
Will starrte auf Cassies Hinterkopf und zwang sich, daran zu denken, wie er auf dem Heimweg von der Schule den Daumen über sein Zeugnis gehalten hatte, weil darauf nicht nur der Nachname, sondern auch der Anteil indianischen Blutes verzeichnet war. Er versuchte, sich den Winter ins Gedächtnis zu rufen, in dem er und seine Großeltern von Dörrfleisch und Dosenkürbis gelebt hatten, weil das staatliche Lebensmittelhilfeprogramm zusammengebrochen war. Ja, dachte er, ich brauche Abstand. Aber noch während Will das dachte, legte er sich neben Cassie, bis sich ihr bebender Rücken fest an seine Brust drückte. Er lag absolut still, weil er nichts Falsches heraufbeschwören wollte. Statt dessen lauschte er ihrem Herzschlag und dem leisen Schnarchen seiner Großeltern, dem ineinander verwobenen Rhythmus. Sanft legte er die Hand auf Cassies Bauch. »Du bist nicht allein«, sagte er.
21
Im Lauf des März, während der Schnee in Pine Ridge zu kleinen Inseln und Verwehungen zwischen den Pappeln zusammenschmolz, gewöhnte sich Cassie an das Reservat. Für sie war es ein schützender Hafen, deshalb merkte sie nicht, wie es dort wirklich aussah – gemessen an der Einwohnerzahl herrschte dort die höchste Mordrate in den Vereinigten Staaten, und Armut und Gleichgültigkeit hatten das Volk ausgeblutet. Statt dessen nahm sie lieber wahr, wie hübsch
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