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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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»Du und Joseph Stands In Sun nehmt dem Arzt im Ort wahrscheinlich viele Patienten weg«, stellte sie fest.
    Dorothea zupfte an einem Zweig und teilte die Rinde, unter der eine winzige grüne Knospe zum Vorschein kam. »Für manche Leute ist es einfacher, zu mir zu kommen, als den weiten Weg in den Ort zu machen; und manche trauen dem Doktor nicht.«
    »Warum?«
    Dorothea blies kurz die Wangen auf. »Weil wir schon immer Medizinmänner hatten, nehme ich an, aber nicht immer wasicutj- Ärzte.«
    »Wasicun. Was bedeutet das?« hakte Cassie schnell nach, die das Lakota-Wort wiedererkannte. »So nennt ihr mich doch, oder? So nennt mich jeder.«
    Dorothea sah sie überrascht an, als müsse das jedem Idioten klar sein. »Es heißt >weiß<«, antwortete sie.
    Cassie drehte und wendete das Wort auf der Zunge, lauschte dem Gleiten und Zwitschern, das wie der Ruf einer Trauertaube klang. »Es klingt hübsch.«
    Dorothea stand mühsam auf und schaute auf Cassie hinunter. Mit der für die Sioux typischen Unverblümtheit erklärte sie: »Es setzt sich aus drei Lakota-Wörtern zusammen und heißt >fetter, gieriger Mensch<.«
    Cassie stapfte schweigend durch den Schlamm und zwang sich zu schweigen. Niemand hatte sie hergebeten, niemand mußte sie mögen. Ihr ganzes Leben war sie in verschiedene Rollen geschlüpft, hatte gefallen wollen und dabei unweigerlich versagt, einfach weil sie war, was sie war: ein hilfloses Kind, Alex’ Frau, eine Weiße. Sie fragte sich, ob das angeboren war, so wie Dorothea es vorhin beschrieben hatte, ob ihr Geist einfach irgendeinen Makel hatte.
    Sie wäre fast in Dorothea hineingelaufen, weil sie nicht bemerkt hatte, daß die alte Frau stehengeblieben war. »Weißt du«, meinte Dorothea beiläufig, » als ich ein Kind war, hatte ich sieben Schwestern. Wir lebten ein bißchen näher am Ort Pine Ridge. Natürlich hatten meine Eltern nicht das Geld, um uns genügend Essen oder Kleider zu kaufen, und Spielzeug schon gar nicht, deshalb haben wir immer mit alten Knöpfen gespielt, mit Teddybären von der Heilsarmee, die wir zu Weihnachten bekamen, und mit selbstgebastelten Sachen. Meine älteste Schwester brachte uns bei, wie man Kürbispuppen macht, aus wilden Kürbissen und aus Lumpen, die wir im Müll fanden. Wir wickelten die Lumpen wie ein Kopftuch um den Kürbisbauch und knoteten den Stoff zu Armen und Beinen.
    Die sahen vielleicht aus, diese Puppen. Und ich weiß noch, daß meine Schwestern jedes Jahr nach ganz glatten, grünen Kürbissen suchten, ohne Beulen im Gesicht, während ich immer die bunten nahm, die, die halb gelb und halb grün waren.« Plötzlich nahm Dorothea Cassies Hand, und Cassie staunte über die Kraft in den dünnen, braunen Fingern. »Mischlinge sind stark, weißt du? Sie sind zäher. Und auf ihre eigene Weise sind sie besonders schön, Cassie, han?«
    Vorsichtig gingen die Frauen weiter; denn keine von beiden wollte den spinnwebdünnen Faden zerreißen, den Dorothea zwischen ihnen geknüpft hatte, indem sie Cassie – zum allerersten Mal - mit ihrem Vornamen angesprochen hatte.
    Während Alex Rivers seine schwarze Fliege band, sann er über Macbeth nach, jene Rolle, die er einen Monat lang hatte ruhen lassen, bevor die Produktion vergangene Woche wieder aufgenommen worden war. Langsam begann er zu verstehen, was in Macbeth vorging; er verstand ihn viel besser als noch vor wenigen Wochen. In Macbeths Ehe herrschte das Grauen - denn er mußte erkennen, daß die Frau an seiner Seite nicht mehr die Frau war, die er geheiratet hatte; daß sie zu Taten fähig war, die er ihr nie zugetraut hätte.
    Seine persönliche Situation unterschied sich natürlich deutlich von der Macbeths, aber trotzdem kam ihm diese Erkenntnis vertraut vor. Bestimmt war manches falsch gelaufen, aber er hatte nie damit gerechnet, daß es soweit kommen könnte. Als er nach Hause gekommen und Cassie nicht mehr dagewesen war, hätte er am liebsten alle Zimmer zweimal abgesucht, sämtliche Kammern und den Speicher eingeschlossen. Es war schwer zu akzeptieren, daß sie tatsächlich gegangen war. Natürlich kam so etwas öfter vor, vor allem in Hollywood, wo man eine Hochzeit eher als Publicity-Termin betrachtete denn als Verbindung zweier Liebender. Doch zwischen ihm und Cassie war es immer anders gewesen. Er hätte nie gedacht, daß Cassie einfach so verschwinden könnte, vor allem, weil er sich nicht eingestehen konnte, daß er sie möglicherweise mehr brauchte als sie ihn.
    Alex zog sich den Kamm durchs Haar und

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