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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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aber nicht zu hören sein durften. Sie schüttelte den Kopf.
    Dorothea schien selbst überrascht. »Ich weiß, daß das in den Tagen des Büffels so gemacht wurde, weil der ganze Stamm hungern mußte, wenn ein Baby eine Herde verscheuchte. Ich weiß nicht, warum wir uns immer noch die Mühe machen.«
    »Jedenfalls wäre es mir lieber, wenn du es bleibenlassen würdest«, meinte Cassie steif. Aber sie mußte an die unzähligen Male denken, wo sie im Dunkeln an Alex’ Seite gelegen und ihre Tränen hinuntergeschluckt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie das Geräusch der Schläge gehört und den Atem angehalten, aber nie aufgeschrieen hatte. Sie ließ sich die Lektion durch den Kopf gehen, die sie in ihrer Ehe gelernt hatte: Wenn man ruhig war und sich möglichst unauffällig verhielt, schlug man weniger Wellen.
    Sie schaute auf Connor, der friedlich und vollkommen still in seinem Wiegenbrett lag. Eines Tages, auf lange Sicht, könnte er diese Fähigkeit vielleicht brauchen.
    An dieser Erkenntnis zerbrach sie beinahe.
    Cassie saß im Fahrersitz von Abel Soaps Jeep und krümmte sich zusammen, als habe sie jemand in den Bauch getreten. Sie hatte sich den Jeep geborgt, um damit in den Futter- und Getreideladen im Ort zu fahren, wo das nächste öffentliche Telefon stand. Nach dem Gespräch mit Dorothea vorhin war sie zu der Überzeugung gekommen, daß sie das Unvermeidliche nicht länger hinausschieben konnte. Sie würde Alex anrufen und ihm verraten, wo sie die ganze Zeit über gesteckt hatte. Sie würde ihm die Wahrheit anvertrauen müssen.
    Bei dem Gedanken wurde ihr ein bißchen schwindlig. Es gab keinen Beweis dafür, daß sich Alex in den vergangenen sechs Monaten geändert hatte, keinen Hinweis darauf, daß er seinen Zorn nicht wieder an ihr - und Connor - auslassen würde. Sie hatte Alex verlassen, damit ihr Baby nicht leiden mußte, bevor es geboren wurde. Wie konnte sie auch nur in Betracht ziehen, Connor jetzt zurückzubringen?
    In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft. Sie konnte Connor bei Dorothea und Cyrus lassen und allein zu Alex zurückkehren, nur vorübergehend, bis sie überzeugt war, daß er sich geändert hatte. Wenn sie das bald tat, in den ersten paar Monaten, würde Connor es gar nicht merken. Aber sie konnte Connor nicht verlassen. Sie hatte ihn gerade erst entdeckt und konnte nicht gleich wieder loslassen.
    Sie stieg aus dem Wagen und trat in den Laden. Horace winkte ihr zu, während sie durch die vollgestellten Gänge auf das Telefon zuging. Ein paar Sekunden wog sie den Hörer in der Hand, als habe er die Macht und unwiderrufliche Wirkung eines geladenen Revolvers.
    Als Alex’ Stimme aus der Leitung drang, setzte der Milchfluß ein. Cassie sah, wie sich dunkle Flecken auf ihrem T-Shirt ausbreiteten, und legte auf.
    Ein paar Minuten später versuchte sie es wieder. »Hallo?« fragte Alex irritiert.
    »Ich bin es«, flüsterte Cassie.
    Sie hörte, wie ein Geräusch im Hintergrund – Wasser, oder vielleicht ein Radio - ausgeschaltet wurde. » Cassie. Gott. Hast du eben schon angerufen?« Seine Stimme klang rund, zum Bersten voll mit Erschrecken, Freude, Erleichterung und anderen Empfindungen, die sie nicht einordnen konnte.
    »Nein«, log Cassie. Diesmal durfte sie sich ihre Unentschlossenheit nicht anmerken lassen. »Geht es dir gut?«
    »Cassie«, erwiderte Alex, »sag mir, wo du bist.« Stille. »Cassie, bitte.«
    Sie fuhr mit dem Finger über die kalte Metallschlange, die den Hörer mit dem Apparat verband. »Du mußt mir etwas versprechen, Alex.«
    »Cassie, komm heim.« Seine Stimme klang leise und flehend. »Es kommt nicht wieder vor, das schwöre ich dir. Ich gehe zu jedem Arzt, den du vorschlägst. Ich tue alles, was du verlangst.«
    »Das ist nicht das Versprechen, das ich jetzt brauche.« Es erstaunte sie, wie weit er seinen Stolz zu opfern bereit war, nur damit sie zurückkam. »Ich werde dir sagen, wo ich bin, weil ich nicht möchte, daß du dir Sorgen machst, aber ich will noch einen Monat bleiben. Du mußt mir schwören, daß du nicht früher kommst.«
    Er rätselte, was um alles in der Welt sie wohl trieb, wofür sie noch einen Monat brauchen konnte, bevor sie zurückkam: irgendwelche Untergrundaktivitäten, eine Visumsverzögerung, vielleicht die wohlüberlegte Trennung von einem Liebhaber. Aber er zwang sich, ihr zuzuhören. »Ich schwöre es«, sagte er und wühlte nach einem Stift. »Wo bist du?«
    »Pine Ridge, South Dakota«, murmelte Cassie. »Im

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