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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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zweiten Mal.
    Cassie starrte ihn über den Krankenhausinkubator hinweg an, eine überkuppelte Plastikblase, die sie seit zwei Tagen von ihrem Kind trennte. Trotz der entzündungshemmenden und fiebersenkenden Mittel und der Ganzkörperwaschungen war Connors Fieber immer noch gefährlich hoch. Der Arzt hatte quasi zugegeben, daß er mit seinem Latein am Ende war.
    Cassie nickte und sah, wie sich ein strahlendes Lächeln auf Wills Gesicht ausbreitete. Er kam auf ihre Seite des Inkubators und hielt die Hände über die warme Plastikkuppel. In dieser Stellung nahmen seine Finger Cassie die Sicht auf die Drähte und Schläuche, die sich in den Leib ihres Sohnes bohrten. Sie staunte Will an, als habe er bereits ein Wunder bewirkt. »Tu, was du tun mußt«, sagte sie leise. »Was immer du für richtig hältst.«
    Der Arzt wurde herbeigerufen, um Cassie zu erklären, daß das nicht besonders klug sei, aber sie schüttelte nur den Kopf und lehnte sich leicht zurück, wo Will stand und moralischen Beistand leistete. Sie beobachtete, wie die Schwestern Connor die Schläuche abnahmen. Als sie ihr Kind wieder in den Armen hielt, schlug Connor zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden die Augen auf.
    »Nehmen Sie wenigstens das hier mit«, drängte der Arzt und drückte Cassie ein winziges Fläschchen mit Tylenol in die freie Hand. Cassie nickte, drehte sich um und verließ gemeinsam mit Will das Krankenhaus, wo man nichts für ihren Sohn hatte tun können. Ganz vorsichtig stieg sie in Wills Pick-up, ängstlich darauf bedacht, Connor ruhig zu halten. Sobald sie aus der Stadt waren, warf sie das Medizinfläschchen aus dem Fenster.
    Mitten in der Nacht, im Wohnzimmer der Flying Horses, wuschen sie mit Schwämmen die Hitze aus Connors winzigem Leib. Dann schob Cassie ihr Nachthemd beiseite, um das Baby anzulegen. Will saß ihr gegenüber und streichelte die heiße, glatte Haut auf Connors krummen Waden.
    Als Connor in unruhigen Schlaf gesunken war, legten sie ihn mitten auf das Faltbett, dann setzten sie sich im Schneidersitz links und rechts von ihm hin. Draußen kam ein frischer Wind auf, und ein Laster verschwand röhrend in der Dunkelheit.
    »Ist alles bereit?« fragte Cassie.
    Will nickte und rieb sich dann mit der Hand über den Nacken. »Meine Großmutter kümmert sich darum.« Er wollte noch etwas sagen, zögerte aber und sah Cassie an. »Ich habe kein Recht, dir irgend etwas vorzuschreiben. Ich bin nicht sein Vater. Wenn es nicht funktioniert«, gestand er, »werde ich mir das nie verzeihen.«
    Er war so in Gedanken versunken, daß er gar nicht merkte, wie Cassie aufstand und sich hinter ihn stellte. Er spürte, wie sie ihm zaghaft die Hand auf den Hinterkopf legte, wie ihre Finger durch sein Haar fuhren. Und unwillkürlich versteifte sich sein Rücken, als ihm klar wurde, daß Cassie ihm zeigte, daß sie ihn brauchte.
    Er drehte sich nicht zu ihr um. »Was tust du da?« fragte er und war wütend darüber, daß seine Stimme so rauh klang.
    Augenblicklich nahm Cassie die Hand weg, und Will fuhr herum. Sie schlang die Arme um ihren Leib. »Ich – ich brauche –« Ihre Stimme brach, und sie zwang sich, Will in die Augen zu sehen. »Ich wollte einfach, daß mich jemand hält«, sagte sie. »Bitte.«
    Die bloße Tatsache, daß Cassie ihn um so etwas bat, ließ Will fast auf die Knie sinken, aber das leise »Bitte« am Schluß brach ihm das Herz. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob er sich, schloß sie in die Arme und drückte sie an seinen Körper.
    Ein paar Minuten später trat Will zurück und schob Cassie ans Bett. Er wartete, bis sie sich hingelegt hatte, das Gesicht dem Baby zugewandt, dann legte er sich hinter sie. Er bettete ihren Kopf auf seinen Arm, und gemeinsam lauschten sie Connors schnellen, rasselnden Atemzügen. Gedankenverloren flüsterte er ihr Lakota-Koseworte ins Ohr, längst vergessen geglaubte Wendungen, die Cassie bestimmt nicht verstand. Er schlief mit den Worten waste cilake ein, Sioux für »ich liebe dich«, und hörte darum nicht, was Cassie noch sagte, bevor auch sie wegdämmerte. Sie hatte Connor betrachtet, sein vorwitziges Naschen und die winzigen, aber doch perfekten Fingernägel, und hinter sich wie ein Sicherheitsnetz Wills warmen Leib gespürt. »Nein«, hatte sie gemurmelt, trotz des Kloßes in ihrem Hals. »Du bist nicht sein Vater.«
    Joseph Stands In Sun lag, in eine Sternendecke gewickelt, ausgestreckt auf dem mit Salbei bestreuten Boden von Cyrus’ und Dorotheas Wohnzimmer

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