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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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und stellte sich tot. Die Möbel standen vor dem Haus, so daß reichlich Platz für die Zuschauer blieb, auch außerhalb des mit einem Seil abgegrenzten heiligen Vierecks. Sie saßen auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Manche, sah Cassie, waren Nachbarn. Andere waren einfach da, um ihnen bei der -Zeremonie zu helfen, mit der man Krankheiten erkennen und heilen konnte.
    Will saß neben ihr und drückte ihre Hand. Connor lag in seinem Wiegenbrett. Er war genauso krank wie zu dem Zeitpunkt, als sie ihn aus dem Krankenhaus in Rapid City geholt hatten. Vier Tage dauerte das immer wieder steigende Fieber nun schon an, vier Tage voller beängstigender Krämpfe und endlosem Geschrei. Als Will gestern abend vor dem Haus seiner Großeltern gehalten hatte, hatte Dorothea bereits auf der Veranda gewartet. Sie war an den Pick-up gekommen und hatte die Hände nach Connor ausgestreckt, damit Cassie bequemer aussteigen konnte. Sie hatte mit der Zunge geschnalzt und den Kopf geschüttelt. »Kein Wunder«, hatte sie kundig geurteilt. »Das ist keine Krankheit, die weiße Medizin heilen kann.«
    Josephs Enkel, der manchmal als sein Sänger auftrat, sang die yuwipi-Lieder und schlug die zeremonielle Trommel. Er stand vor dem provisorischen Altar, auf dem Josephs Büffelschädel, ein roter und ein schwarzer Stab, eine Adlerfeder sowie ein Hirschwedel lagen. Im Zimmer war es vollkommen dunkel, abgesehen von den Mondlichtstreifen, die ins Haus drangen.
    Cassie war schwindlig; vielleicht einfach vor Erschöpfung oder aber von dem betäubenden Duft des Salbeis, der den Boden bedeckte und den alle Zuschauer im Haar trugen. Will, der Cassie die Zeremonie vorher nach bestem Vermögen erklärt hatte, hatte gemeint, Salbei sei die heilige Pflanze der Geister. Jede Botschaft, die Joseph als Vertreter der »Toten« empfing, würde über den Salbei übermittelt.
    In den wechselnden Strömungen der Nacht begannen Schatten und Klänge das Wohnzimmer zu füllen. Es waren hohe, gepreßte Geräusche, unmenschlich, drängend. »Die Geister sind da«, sagte jemand, eine Stimme, die Cassie nie zuvor gehört hatte, die aber vollkommen vertraut klang, vielleicht sogar ihre eigene war. Sie spürte, wie ihre Schultern von dem durchdringenden Schrei eines Adlers weggestoßen wurden, und obwohl sie die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können, hätte sie nicht sagen können, wessen Hand das Sternenband quer über die Zimmerdecke geworfen hatte. Sie hatte einen Arm mit Wills verschränkt und den anderen um das Gestell von Connors Wiegenbrett geschlungen, als fürchte sie, er könne ihr entrissen werden. Aber sie hörte sein tiefes, zufriedenes Gurgeln, und als sie den Kopf hob, sah sie, wie sein klares, leuchtendes Gesicht von einem unendlich weichen Flügel gestreift wurde.
    Als die Zeremonie vorüber war, wurde das Licht wieder angemacht und Joseph Stands In Sun aus seiner Sternendecke gewickelt. Er schüttelte den Salbei aus dem handgestickten Muster, faltete bedächtig die Decke zusammen und stellte die Kultgegenstände auf dem Altar um, bevor er zu Cassie ging. Aber statt sie anzusprechen, kniete er vor Connors Wiegenbrett nieder. Er preßte die Hand auf die Stirn des Babys, ergriff dann Cassies Handgelenk und bedeutete ihr, es ihm nachzutun.
    Connor war heiß und verschwitzt, aber er gab leise, fröhliche Laute von sich, die ihr das Herz aufgehen ließen. Das Fieber war abgeklungen. Verwundert sah Cassie zu Joseph auf.
    »Uyelo. Sein Vater kommt«, sagte Joseph nur. »Genau wie in dir brannte in seinem Leib die Angst vor dem Unbekannten.«
    Hinter den zerschlissenen Vorhängen, die ihr Schlafzimmer vom übrigen Haus abteilten, waren Cyrus und Dorothea immer noch hellwach. Sie lagen auf dem Rücken, starrten die Decke an und hatten die knotigen Finger fest ineinander verschränkt.
    »Woran denkst du?« flüsterte Dorothea leise, um Cassie und Connor und Will nicht aufzuwecken, die im Wohnzimmer schliefen. Sie fuhr mit der Hand über Cyrus’ Unterarm, doch sie spürte nicht die faltige Haut, die Sehnen und Knochen eines alten Mannes, sondern die festen Muskeln, an die sie sich aus ihrer Jugendzeit erinnerte.
    »Ich denke daran, wie ich dich das erste Mal berührt habe«, sagte Cyrus.
    Dorothea wurde rot und versetzte ihm blindlings einen Schlag, aber sie lächelte dabei. »Du verrückter alter Narr«, schalt sie ihn.
    »Ich war oft die ganze Nacht wach und habe mir überlegt, wie ich deine Großmutter loswerden könnte«, sagte Cyrus. »Sie

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