Auf den zweiten Blick
sehen.
Cassie beugte sich vor, als die Männer nacheinander aus der heiligen Hütte kamen, angeführt von Joseph Stands In Sun. Genau wie er trugen die Tänzer lange rote Kilts und hatten sich blaue Streifen auf die Brust gemalt. Auf ihren Köpfen trugen sie Salbeikränze, und sie hatten Pfeifen aus Adlerknochen bei sich. Cassie versuchte, Wills Blick aufzufangen, als er an ihr vorbeikam, um ihm Glück oder Hals- und Beinbruch zu wünschen, aber er hatte das Gesicht in den Himmel gewandt.
. Joseph Stands In Sun stellte sich vor Will, der unter dem gegabelten Pappelpfahl wartete. Er murmelte etwas auf Lakota und hob dann einen glänzenden silbernen Spieß hoch. Einen Moment lang hielt er ihn über seinen Kopf, und Cassie sah, wie sich die Sonne in der polierten Spitze spiegelte. Joseph beugte sich zu Will, der das Kreuz durchdrückte. Aber erst als Joseph einen zweiten Spieß schwang, begriff Cassie, daß der Medizinmann Wills Brust durchbohrt hatte, daß Blut über seinen Bauch floß.
Wie bei den anderen Tänzern waren auch Wills Spieße an Schnüren aus Rohleder befestigt, die von der Spitze des heiligen Pfahles herabbaumelten. Unter Josephs Anleitung begannen die Männer zu tanzen, kaum anders als während der vergangenen drei Tage. Die Trommeln schlugen, aber nicht lauter als Cassies Herz. Sie umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls, und ihr Gesicht war angespannt und kalkweiß.
»Du hast das gewußt«, flüsterte sie Cyrus zu, aber ohne den Blick von Will zu wenden. »Du hast es gewußt, und du hast mir nichts gesagt.«
Will drehte sich und sang. Seine Brust glänzte blutig, denn mit jeder Drehung riß er die Wunden weiter auf. Er gab vor, sich von den Spießen losreißen zu wollen, und entsetzt verfolgte Cassie, wie sich seine Haut bis an die Grenze der Belastbarkeit spannte.
Cassie packte Cyrus’ Arm. »Bitte«, bettelte sie. »Er tut sich weh. Du mußt etwas tun.«
»Ich kann gar nichts tun«, sagte Cyrus. »Das muß er schon selbst tun.«
Cassie liefen die Tränen über die Wangen, und sie fragte sich, warum sie Will jemals ermutigt hatte, sein Lakota-Erbe zu akzeptieren. Das hier war Barbarei. Sie sah ihn in seiner adretten Polizeiuniform vor sich, die Mütze tief in die Stirn gezogen. Sie erinnerte sich daran, wie er damals, nachdem er sie gefunden hatte, neben ihr in der Notaufnahme gestanden hatte, mit besorgt verschränkten Armen. Sie dachte daran, wie er mit ihr im Sommerregen getanzt und das Baby sie beide getreten hatte.
»Warum ausgerechnet dieser Tanz?« flüsterte sie mit gebrochener Stimme; sie dachte an die anderen Zeremonien, die sie mit angesehen hatte und bei denen es nicht zu Selbstverstümmelungen gekommen war. Sie drehte sich um und stellte entsetzt fest, daß die Zuschauer dem Tanz lächelnd zuschauten, als würden sie sich an den Schmerzen anderer Menschen laben.
»Er leidet nicht«, murmelte Cyrus. »Nicht seinetwegen.« Er deutete auf den Tänzer neben Will. »Louis tanzt den Sonnentanz, damit seine Tochter weiterlebt, auch wenn ihre Nieren sterben. Arthur Peel, da drüben rechts, hat einen Bruder, der immer noch in Vietnam vermißt wird.« Er sah Cassie an. »Die Tänzer nehmen den Schmerz auf sich«, erklärte er, »damit jemand, der ihnen nahesteht, ihn nicht zu spüren braucht.«
Als der Tanz sich seinem Ende näherte, trat Joseph Stands In Sun aus dem Kreis. Die Männer begannen herumzuwirbeln und fester zu zerren, um sich endlich zu befreien. Hilflos stand Cassie auf. Im selben Augenblick spürte sie Dorotheas Hand auf ihrer Wade. »Nicht«, sagte Dorothea.
Leiden, damit ein anderer nicht leiden muß. Seinen Körper für jemand anderen opfern. Cassie sah, wie der Spieß Wills Haut Zentimeter um Zentimeter aufriß, sah das Blut über seine Brust strömen.
Er schaute sie an. Cassie zwang sich, Will in die Augen zu sehen, • verband ihren Blick mit seinem. Sein Bild verschwamm, und sie sah sich selbst blutend und gebrochen zu Alex’ Füßen liegen, das Ventil für einen Zorn, der nichts mit ihr zu tun hatte. Will tat für Cassie nichts anderes als das, was sie jahrelang für Alex getan hatte.
Als die Haut über Wills Brust schließlich platzte und die Spieße freigab, schrie Cassie auf. Sie rannte nach vorn, kniete neben ihm nieder und preßte erst Salbei aus seinem Kranz, dann ihren Hemdsaum auf seine Wunden. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Atem ging schnell und flach. »Es tut trotzdem weh«, flüsterte sie. »Auch wenn du es für jemand anderen tust - es
Weitere Kostenlose Bücher