Auf den zweiten Blick
Indianerreservat.«
»Wo? Cassie, wie –«
»Das ist alles, Alex. Ich werde jetzt auflegen. In einem Monat rufe ich wieder an, dann werden wir gemeinsam überlegen, wie und wann ich zurückkomme. In Ordnung?«
Nein, konnte sie ihn denken hören. Es ist nicht in Ordnung. Ich will dich, jetzt, hier, bei mir. Aber er sagte nichts, und das machte ihr Hoffnung. »Du wirst dein Versprechen halten?« fragte sie.
Sie konnte sein trauriges Lächeln über tausend Meilen Entfernung spüren. »Chere«, sagte er leise, »du hast mein Wort.«
24
Kassie legte sich über Connors glühenden, zappelnden Körper und preßte ihn auf den Untersuchungstisch, während zwei weiße Krankenschwestern seine wild schlagenden Arme geradezogen, um ihm Blut abzunehmen. Ihr Kopf lag dicht unter Connors Mund. Er schrie wie am Spieß, und seine Brust hob und senkte sich in wütenden Krämpfen. Zu Beginn der Behandlung hatten die Krankenschwestern sie gefragt, ob sie draußen warten wolle. »Manchen Eltern ist das zuviel«, hatte eine gesagt. Aber Cassie hatte sie nur ungläubig angestarrt. Wenn sie quer über ihrem Baby ohnmächtig werden sollte, dann war das nicht zu ändern. »Ich bin alles, was er hat.« Besser konnte sie es nicht erklären.
Es brachte sie um. Sie konnte nicht mit ansehen, wie diese winzige Gestalt vor Fieber zitterte; sie konnte die Schreie nicht ertragen, die – noch drei Wochen nach der Geburt - tief aus ihrem Inneren zu kommen schienen. Cassie beobachtete, wie sich eine Phiole nach der anderen mit Blut füllte. »Sie nehmen ihm zuviel ab«, flüsterte sie vor sich hin. Sie sagte nicht, was sie eigentlich dachte: Nehmt lieber meines.
Der Arzt in Pine Ridge hatte sie nach Rapid City ins Krankenhaus geschickt. Zu jung, hatte er gesagt. Infektiöses Dies und Das. Vielleicht eine Lungenentzündung. Die Krankenschwestern wollten eine komplette Blutuntersuchung im Labor machen lassen. Dann würde man röntgen. Sie würden Connor über Nacht dabehalten oder so lange, bis sein Fieber wieder fiel.
Cyrus, der sie nach Rapid City gefahren hatte, wartete unten am Empfang. Weiter würde er sich auf keinen Fall in das Krankenhaus wagen, in dem er seinen Sohn hatte sterben sehen. Und so saß sie, als die Ergebnisse aus dem Labor kamen, auf einem schmalen Metallstuhl, allein mit Connor, der mit Drähten und Schläuchen an eine tragbare Maschine zur intravenösen Ernährung angeschlossen war. Man gab ihm eine Salzlösung mit einem Antibiotikum. Der Arzt hatte erklärt, er sei dehydriert; Cassie wußte, daß er recht damit hatte, denn ihre Brüste schmerzten und hatten längst ihre Bluse durchnäßt. Vor ein paar Minuten war Connor vor Erschöpfung eingeschlafen, und Cassie merkte, daß sie ihn darum beneidete. Sie mußte daran denken, wie oft sie Alex ihren Körper angeboten hatte, damit er nicht leiden mußte, und schüttelte den Kopf, weil sie ausgerechnet dieses eine Mal, wo sie für Connor liebend gerne alle Schmerzen auf sich genommen hätte, nichts für ihn tun konnte.
Die Tür zu dem winzigen Raum flog auf, und Cassie wandte mit einer langsamen, vor Müdigkeit fast graziös wirkenden Bewegung den Kopf. Will stand in der Tür, schwer atmend und mit großen, dunklen Augen. »Großvater hat angerufen«, sagte er. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.«
Er nahm das Bild auf, das sich ihm bot: Cassie, die stocksteif auf ihrem Krankenhausstuhl saß, die Füße fest um die Metallbeine geschlungen hatte und Connor mit beiden Armen an ihre Brust drückte. Er sah den kleinen Verband an Connors Arm, die Spitze der Injektionsnadel, die unter dem weißen Pflaster in die Vene drang, den blutigen Fingerabdruck auf dem Unterarm des Babys.
Cassie sah zu ihm auf. Will ließ seinen Hut auf das Linoleum fallen und kniete neben ihr nieder, drückte ihr Gesicht in seine Halsgrube und legte seine Arme um ihre, um ihr Connor abzunehmen. »Ceye sni yo«, sagte er. »Weine nicht. Es wird alles gut.« Er strich ihr übers Haar und spürte, wie ihre Tränen seinen Hemdkragen benetzten.
Cassies Finger krampften sich immer wieder in sein dünnes Baumwollhemd. Will hauchte ihr einen Kuß auf den Kopf und zwang sich, nicht daran zu denken, wie sein Vater bleich und dahinschwindend in einem Krankenhausbett ein paar Stockwerke über ihnen gelegen hatte. Er drückte seine Finger in die Falten an Connors Hals, suchte den Puls und versuchte, sich in dieser völlig unbekannten Situation richtig zu verhalten.
»Vertraust du mir?« fragte Will zum
Weitere Kostenlose Bücher