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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sind deine Rippen, die brechen, deine Handgelenke werden blau, deine Wunden bluten.«
    Will schlug die Augen auf. Er hob eine Hand und wischte Cassie die Tränen von den Wangen. »Du hast das für mich getan«, sagte Cassie. »Damit es nicht so weh tun sollte, als ich es für ihn getan habe.« Will nickte.
    Trotz ihrer Tränen mußte Cassie lachen. »Wenn ich es nicht besser wüßte, Will Flying Horse, würde ich sagen, du benimmst dich wie ein großer Indianer.«
    Will brachte ein schwaches Grinsen zustande. »Was du nicht sagst.«
    Cassie strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Sanft fuhr sie mit dem Finger über die klaffenden Ränder von Wills Wunden. Nicht einmal Alex, der ihr die ganze Welt zu Füßen gelegt hatte, hatte ihr jemals so viel gegeben.
    Zwei Wochen nach dem Sonnentanz begannen die Wehen. Cassie hätte reichlich Zeit gehabt, in die Klinik im Ort zu fahren, aber sie wollte das Baby in einer vertrauten Umgebung bekommen. Und so lag sie zehn Stunden später auf einem Kissenberg in dem Bett, in dem Cyrus, Zachary und Will zur Welt gekommen waren, und schrie aus Leibeskräften. Dorothea stand am Fußende des Bettes und maß, welche Fortschritte Cassie machte. Will stand neben Cassie und ließ sich die Hand von ihr zerquetschen. »Es dauert nicht mehr lange«, verkündete Dorothea stolz. »Der Kopf sitzt schon im Geburtskanal.«
    »Ich muß weg.« Will versuchte sich aus Cassies Griff zu lösen, aber sie gab ihn nicht frei. Er hatte sich von Anfang an nicht wohl bei der Sache gefühlt, aber Cassie hatte ihn angebettelt. Vielleicht hätte er dennoch die Kraft aufgebracht, ihre Bitte zurückzuweisen, wenn Cassie nicht genau in diesem Augenblick von einer Wehe ergriffen worden und in seinen Armen zusammengesunken wäre.
    »Bitte«, keuchte sie. »Laß mich jetzt nicht allein.« Sie packte Will am Hemd.
    Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment krampfte sich ihr Bauch zu einem festen Knoten zusammen, und dieser unglaubliche Druck zwängte sich durch ihren Unterleib. War es nicht lächerlich, daß sie fortgelaufen war, um diesem Kind das Leben zu retten - nur um am Ende selber zu sterben? Sie atmete tief durch und ließ sich wieder in die Kissen fallen. Ich verstehe dich, ließ sie das Kind insgeheim wissen. Ich weiß, wie schwer es ist, von einer Welt in eine andere zu wechseln.
    »Da kommt es«, sagte Dorothea. Cassie spürte, wie Dorotheas kühle, feste Finger sich auf den Kopf ihres Babys legten. Sie mühte sich hoch, bohrte die Fingernägel in Wills Hand und begann, mit aller Kraft zu pressen.
    Zehn Minuten später spürte Cassie, wie etwas Langes, Nasses zwischen ihre schmerzenden Schenkel glitt. Dorothea hielt ein weinendes, faszinierendes Bündel hoch. »Hoksila luhäl Ein Junge!« krähte sie. »Groß und gesund, wenn auch ein bißchen zu blaß für meinen Geschmack.«
    Cassie lachte, streckte die Arme aus und stellte überrascht fest, daß ihr die Tränen aus den Augen liefen. Sie wiegte das Baby in ihren Armen und versuchte, sich an das Gefühl zu gewöhnen, ohne recht zu wissen, was für ein Gefühl das eigentlich sein sollte. Das Baby machte den Mund auf und greinte.
    »Es klingt sogar wie du«, murmelte Will, und plötzlich fiel Cassie wieder ein, daß er immer noch da war. Seine Hand streichelte leicht und fast ehrfürchtig ihren Hinterkopf, als wäre er nicht sicher, ob ihm diese Berührung gestattet sei.
    »Wie fühlst du dich?« fragte Will.
    Cassie sah zu ihm auf und suchte nach dem richtigen Wort. »Voll.«
    »Na ja, aussehen tust du jetzt viel leerer.«
    Cassie schüttelte den Kopf. Wie sollte sie das erklären? Nachdem sie sich so lange nach Alex gesehnt hatte, war sie endlich nicht mehr allein. Dieses winzige, zappelnde Ding machte sie genauso vollständig, wenn auch auf andere Weise.
    Ein Junge. Ein Sohn. Alex’ Kind. Cassie durchstöberte die verschiedenen Bezeichnungen, probierte aus, welche am besten zu dem Baby in ihrem Arm paßte. Der Kleine hatte sein Gesicht ihrer Brust zugewandt, als wisse er bereits, was er von dieser Welt haben wollte.
    »Du bist genau wie dein Vater«, flüsterte sie, aber noch während sie die Worte aussprach, erkannte sie, daß das nicht stimmte. Das Gesicht, das zu ihr aufsah, war eine winzige Kopie ihres eigenen, abgesehen von den Augen, die der Kleine eindeutig von Alex hatte. Klar und blaß, silbern wie eine frisch geprägte Münze.
    Der Mund, die Form der Finger oder Beine, sein Leib erinnerten kaum an Alex. Es schien fast, als sei Alex’ Einfluß

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