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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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immer gesagt. Sie war die letzte, die das mit mir gespielt hat.«
    Jane zog die Knie an die Brust. »Lebt sie in South Dakota?«
    Er hätte ihre Frage fast nicht gehört, so versunken war er in seine Erinnerung an das weiche Kinn seiner Mutter und den Glanz in ihrem Kupferhaar. Im Geist sah er ihre Hand und seine an den beiden Enden des Gabelbeins einer Hühnerbrust: er hätte gern gewußt, ob sich ihre Wünsche jemals erfüllt hatten. Will sah auf. »Meine Mutter starb, als ich neun war, zusammen mit meinem Vater bei einem Autounfall.«
    »O wie schrecklich«, entfuhr es Jane, und Will war verblüfft, wie bedrückt sie klang, wo es doch um eine Fremde ging.
    »Sie war eine Weiße«, hörte er sich sagen. »Nach dem Unfall lebte ich bei den Eltern meines Vaters im Reservat.«
    Sobald er zu sprechen begann, griff Jane auf den Servierteller und zog ein paar Knochen aus dem Haufen, den Will dort abgelegt hatte. Sie leerte sie auf ihren Teller und schob sie dort scheinbar vollkommen geistesabwesend herum. Plötzlich schaute sie auf und lächelte ihn an. »Erzählen Sie weiter«, bat sie. »Erzählen Sie mir, wie sich Ihre Eltern getroffen haben.«
    Will hatte diese Geschichte schon oft erzählt, weil sie sich so warm um die Herzen der Frauen schmiegte, daß sie danach wie von selbst in sein Bett purzelten. »Meine Mutter war Lehrerin im Ort Pine Ridge, und mein Vater sah sie eines Tages, als er für seinen Boß auf der Ranch Futter besorgte. Und weil sie eine Weiße war und er ein Lakota, wußte er nicht, warum sie ihn so anzog, und noch weniger, was er tun sollte.« Wie hypnotisiert beobachtete er Janes Hände, die zwei Knochen zusammendrückten. »Jedenfalls gingen sie ein paarmal aus, und dann kamen die Sommerferien, und sie meinte, daß ihr alles viel zu schnell gehe. Also verschwand sie einfach, ohne meinem Vater zu verraten, wohin.«
    Jane legte fünf Knochen säuberlich nebeneinander am Tellerrand ab. »Ich höre zu«, sagte sie.
    »Ich weiß, es klingt blöd, aber mein Vater sagte, er sei damals die Zäune abgeritten, und da hätte er es einfach gewußt. Also machte er sich mitten am Tag auf, Richtung Nordnordwesten, auf einem geliehenen Pferd und ohne eine Ahnung zu haben, wohin er eigentlich ritt.«
    Jane schaute auf, und ihre Hände kamen zur Ruhe. »Hat er sie gefunden?«
    Will nickte. »Ungefähr fünfunddreißig Meilen entfernt in einem Restaurant, wo sie auf eine Freundin wartete, die sie dort abholen und heim nach Seattle fahren sollte. Mein Vater setzte sie vor sich auf das Pferd und wickelte seine Satteldecke um sie beide.«
    Will hatte diese Geschichte als Kind so oft gehört, daß er auch jetzt noch die Stimme seiner Mutter und nicht sich selbst hörte. »So haben sich vor vielen Jahren die Menschen aus meinem Volk verliebt«, erklärte mir dein Vater, und er zog die Decke so fest, daß wir unseren Herzschlag teilten. »Ich wäre nachts zu dir gekommen, und wir hätten in dieser Decke draußen gesessen, und die Sterne wären Zeugen gewesen, wenn ich dir erklärt hätte, daß ich dich liebe.«
    »Mein Gott«, seufzte Jane. »Das ist das Romantischste, was ich je gehört habe.« Sie zog die nächste Handvoll Knochen von dem Tablett zwischen ihnen. »Ist Ihre Mutter mit ihm zurückgeritten?«
    Will lachte. »Nein, sie fuhr nach Seattle. Aber sie hat ihm den ganzen Sommer über Briefe geschrieben, und ein Jahr später haben sie geheiratet.«
    Jane lächelte und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Wieso wird das heute nicht mehr so gemacht? Heute fummelt man auf der High-School hinten in einem Sedan herum und hält sich für verliebt. Niemand wird mehr vom Sturm der Leidenschaft hinweggefegt.« Kopfschüttelnd stand sie auf, um die Teller hinauszutragen. Sie hob den fast leeren Servierteller hoch und ließ ihn dann fallen, hörte ihn klirren und das Fett spritzen.
    Auf ihrem Teller hatte sie das Skelett des Hühnchens ausgelegt.
    Die Knochen waren sorgfältig aneinandergefügt, an manchen Stellen sogar wieder in die Gelenke gedrückt. Die Flügel waren säuberlich an die Rippen angelegt; die kräftigen Beinknochen nach hinten gestreckt.
    Sie preßte sich die Hand auf die Stirn, als ein Strom von Fachbegriffen und Bildern ihr Gehirn überschwemmte: der schlanke Armknochen eines Ramapithecus, eine Backenzahnreihe und Schädelfragmente, grüne Zelte in Äthiopien, unter denen Tische mit Hunderten von katalogisierten Knochen standen. Biologische Anthropologie. Sie hatte ganze Monate auf

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