Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
Schwester und Marlene vergoss ich auch bitterliche Tränen. Mir vorzustellen, wie sie auf meiner Beerdigung im Regen standen (es regnete bestimmt auf meiner Beerdigung), brach mir beinahe das Herz. Vielleicht kam Mathias auch zur Beerdigung und stand abseits unter einem Baum … Der Ärmste! Er hatte ja meinen Tod nicht nur mit ansehen müssen, bestimmt hatte er bei der Polizei auch genau schildern müssen, wie der Unfall passiert war. Oh Gott! Dadurch hatte Felix möglicherweise von Mathias erfahren, und jetzt war sein Herz gleich doppelt gebrochen … Bleich und unrasiert würde er am Grab stehen, während die übrigen Gäste sich längst verstreut hätten, und »Warum Kati, warum?« fragen, bis schließlich sein Vater käme und ihn wegziehen würde, vielleicht mit den Worten: »Junge, die Dachrinnen im Ferienhaus sind in üblem Zustand, das musst du erledigen, Florian hat da keine Zeit zu.«
Nein! Ich wollte nicht tot sein.
Und zudem konnte man Beweise und Tatsachen doch nicht einfach so ignorieren, oder? Intelligenz bedeutet schließlich auch, sich mit offensichtlichen Fakten zu arrangieren. Mir immer und immer wieder zu sagen, wie unmöglich es war, dass ich mich in meiner eigenen Vergangenheit befand, half nun auch nicht weiter. Offenbar war es ja möglich, sonst wäre ich nicht hier.
Warum auch immer.
An dieser Stelle begann mein Kopf wegen der komplizierten Gedankengänge zu schmerzen, und ich hatte einen letzten, ultraparadoxen Gedanken: Was, wenn ich mir (wegen eines Gehirntumors – wer wusste das schon – oder von mir aus auch wegen der rosa Pillen von Schwester Sabine) das ganze Leben bis ins Jahr 2011 nur eingebildet hatte? Wenn ich Felix, DIE HOCHZEIT, Mathias und alles andere komplett halluziniert hatte? Aber diesen Einfall verwarf ich schnell wieder, weil ich tief in meinem Inneren spürte, dass er nicht stimmen konnte. Und weil er mein Gehirn gefährlich nahe an die Überhitzung brachte.
»Nein, nicht doch!«, murmelte Frau Baronski im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite. »Nicht die Windröschen.« Und während ich überlegte, ob sie damit die Pflanze meinte oder im Traum eine hübsche Umschreibung für ihre Flatulenzen gefunden hatte, zog mein geplagtes Gehirn die Notbremse und versetzte mich umgehend in den Tiefschlaf. Zumindest nahm ich das an, denn als ich die Augen wieder aufschlug, war es hell.
Bevor ich Hoffnung schöpfen konnte, das alles nur geträumt zu haben, kam Schwester Sabine mit der Bettpfanne für Frau Baronski herein und sagte fröhlich: »Guten Morgen, ihr Klatschkiesjeseechter.«
Guten Morgen, liebes Jahr 2006. Was soll ich nur mit dir anfangen?
»Wie sieht es aus, Frau Wedekind? Wieder klar im Kopp?«
Ich starrte Schwester Sabine missmutig an. Das würde ich dir auch dann nicht sagen, wenn du keine Projektion meines vermutlich im Jahr 2011 im Koma liegenden Unterbewusstseins wärst. Oder eine Kopie deiner selbst in einem Paralleluniversum. Oder …
»Glasklar«, murmelte ich, und während Frau Baronski die erniedrigende Prozedur mit der Bettpfanne über sich ergehen ließ, haderte ich mit meinem Schicksal. Zwanzig Jahre zurück, das hätte durchaus was gehabt. Dann wäre ich erst fünfzehn und könnte auf jeden Fall ein besseres Abitur machen, ein Instrument erlernen und mein Konfirmationsgeld in Aktien und sagen wir mal eine elektrische Zahnbürste investieren anstelle in ein Tattoo und dessen Entfernung.
Auch fünfzehn Jahre zurück wäre es noch nicht zu spät für ein Au-pair-Jahr und Klavierunterricht. Oder ein Innenarchitekturstudium anstelle von BWL.
Selbst wenn es mich nur zehn Jahre zurückverschlagen hätte, könnte ich immer noch Facebook erfinden, die Menschen vor dem 11. September warnen und eine gute Augencreme benutzen.
Aber 2006?
Andererseits: Das hier war auf jeden Fall besser, als tot zu sein. Das konnte man durchaus positiv sehen. Die U-Bahn oder mein durchgeknalltes Unterbewusstsein oder eine sich noch nicht offenbarende höhere Macht hatte mich immerhin in eine Zeit zurückgeschickt, in der meine Oberarme noch eins a definiert waren. Gut, beruflich waren die Weichen bereits gestellt, aber mal ehrlich: Das mit Facebook hätte ich ohnehin nicht hingekriegt, und Innenarchitektur war eine brotlose Kunst. Und privat …
»Autsch!« Ich hatte mich so ruckartig im Bett aufgesetzt, dass die Blinddarmnarbe kräftig ziepte. Das war es! Heute war der dritte April. Am vierten April hatte ich Felix’ Fahrrad mit meinem Auto platt
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