Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
fragte Eva.
»Der Kater! Der ist schon zwanzig Jahre tot. Aber den meinte ich gar nicht. Ich meinte den richtigen Felix.« Meine Stimme bebte. »Wo ist er?«
»Sehen Sie?« Jetzt weinte Eva beinahe. »Sie ist total durch den Wind.« Sie tätschelte meine Hand. »Katilein, weißt du denn nicht mehr? Wir mussten den armen, alten Felix an deinem fünfzehnten Geburtstag einschläfern lassen …«
»Natürlich weiß ich das noch.« Ich war auf mein Kissen zurückgesunken. Zum einen, weil die Wunde an meinem Bauch jetzt doch ziemlich zwickte, zum anderen, weil mir längst gedämmert war, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Um die nächste Frage zu stellen, musste ich die Augen schließen. »Welches Datum ist heute?«
Es war Schwester Sabine, die antwortete. »Der zweite April.«
»Sonntag«, steuerte Frau Baronski feierlich bei. »Oder Montag.«
Ich holte tief Luft. »Und welches Jahr?«, flüsterte ich dann.
Es ist ein großer Vorteil im Leben, die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst früh zu begehen.
Winston Churchill
2006 also.
Das Jahr, in dem ich nach Köln gezogen war, um meine Stelle bei G&G Impulse Consulting anzutreten. Das Jahr, in dem ich diese völlig unnötige Blinddarmentzündung hatte und Felix kennenlernte. Das Jahr, in dem Marlene meine beste Freundin geworden war. Das Jahr, in dem Eva Strähnchen und einen Pony gehabt hatte. Die Hochzeit, von der sie geredet hatte, war keine andere als DIE HOCHZEIT. Und sie stand erst noch bevor.
Das war so was von … abgefahren . Oder wie Schwester Sabine sagen würde: Do kriste en Aap, Höppelepöppel. Leck mich en de Täsch.
Es war mittlerweile Nacht, und neben mir lag Frau Baronski und schnarchte. Im Zwielicht starrte ich hinauf an die Decke und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, einen, der sich nicht hoffnungslos im Kreis drehte und selber in den Schwanz biss.
Und während die Minuten zäh verstrichen, versagte ich dabei auf ganzer Linie.
Offenbar hat mich die U-Bahn um fast fünf Jahre in der Zeit zurückkatapultiert, dachte ich ungefähr zehnmal hintereinander. Aber abgesehen davon, dass U-Bahnen anderes zu tun haben, als Leute auf Zeitreise zu schicken, und das Ganze sowieso völlig unmöglich und undenkbar war, weil … weil es so etwas gar nicht gab, war ich von einem klaren Gedanken etwa so weit entfernt wie Evas Ponysträhnchen von einer Frisur.
Andererseits: Die Beweise waren erschlagend. Das hier war das Jahr 2006. Mitsamt meiner frischen Blinddarmwunde, Frau Baronskis Schnarchen und meiner gestohlenen Handtasche. In der ich übrigens mein altes Handy gefunden hatte – ohne Felix’ Nummer. Und ohne Mathias’ Nummer. Weil ich die bisher noch gar nicht getroffen hatte.
Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.
Alfred Hitchcock
Mir entfuhr ein hysterisches Kichern, so laut, dass Frau Baronskis Schnarchen einen fragenden Unterton bekam. Erschrocken hielt ich mir den Mund zu. Es reichte schon, dass ich Eva gestern mit meinen wirren Fragen und Behauptungen eine Heidenangst eingejagt hatte. Zum Glück hatte ich irgendwann die Geistesgegenwart gehabt, die Klappe zu halten und mich um einen weniger irren Blick zu bemühen. Daraufhin hatte sich Eva einigermaßen beruhigt – andernfalls läge ich jetzt in der Psychiatrie. Ein besonders interessanter Fall von schizoider Persönlichkeitsstörung: Die Patientin glaubt, sie käme aus der Zukunft, und das hier sei alles nicht echt …
Oh ja! Weil es nicht echt sein konnte! Zugegeben, es sah echt aus und fühlte sich echt an. Frau Baronski wälzte sich – täuschend echt – auf die andere Seite. Und dann roch es sogar echt, leider.
Ich kniff mich probehalber noch einmal in den Arm. Tja, und weh tat es auch. Echt.
Also musste es auch echt sein.
Andererseits: Das menschliche Unterbewusstsein ist zu Ungeheuerlichem in der Lage, das weiß man ja. Und vielleicht war ich gar nicht verrückt, sondern lag irgendwo im Jahr 2011 in einem Krankenhaus im Koma und träumte das alles hier nur?
Oder – und der Gedanke entbehrte nicht einer gewissen Logik – ich war tot, und das hier war das Leben nach dem Tod. Nur dass es eben fünf Jahre vor dem Tod stattfand – merkwürdig genug. Ich musste ein bisschen weinen bei der Vorstellung, tot zu sein. Der arme Felix! Wer würde ihn denn jetzt daran erinnern, sich auf beiden Seiten des Gesichts zu rasieren und ihn an den Sorgenfaltentagen zum Lachen bringen? Wegen meiner Eltern, meiner
Weitere Kostenlose Bücher