Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
nicht. Wenn ich ehrlich Bilanz zog, musste ich zugeben, dass sich die drei Tage, die ich bisher im Jahr 2006 verbracht hatte, komplett neu angefühlt hatten.
Während das Radio lief (auch die Musik kam mir höchstens vage bekannt vor), starrte ich auf das Innere meines Kleiderschrankes. Wie zur Hölle waren all diese hässlichen Klamotten da hineingelangt? Was für Eva im Jahr 2006 der Pony und die Strähnchen gewesen waren, war für mich offenbar die Farbe LILA. Ich konnte mich gar nicht erinnern, so intensiv darin geschwelgt zu haben. Dabei machte Lila mich blass und alt. Das Einzige, das mich freute, war das Wiedersehen mit meinen Lieblingsjeans, noch ohne Loch im Knie. Leider konnte ich die nicht zur Arbeit anziehen, die Blutgräfin hatte da strenge Regeln aufgestellt. Weil das Thermometer draußen an der Scheibe null Grad anzeigte und die Auswahl an nicht lilafarbenen Wintersachen nicht wirklich üppig war, entschied ich mich für einen lila Cordrock, dicke lila Zopfstrumpfhosen und einen schwarzen Rollkragenpullover. Und suchte dann verzweifelt nach meinen schwarzen Lieblingsstiefeln, bis mir einfiel, dass ich die im Jahr 2006 noch gar nicht besessen hatte. Überhaupt keine Stiefel, wie ich feststellen musste. Tsss, wie hatte ich jemals ohne Stiefel leben können? Oder in dieser winzigen Dachwohnung, bei der die Fenster jeden Morgen von innen beschlagen waren, die Heizung die ganze Nacht gluckerte und man sich unentwegt den Kopf stieß? Kein Wunder, dass ich so schnell bei Felix eingezogen war.
»Neue Wohnung suchen!!!« stand ziemlich weit oben auf der To-do-Liste, die ich alle paar Stunden erneuerte und ergänzte.
Erfreulich war, dass der hässliche lila Rock, obwohl winzig klein, recht locker auf meinen Hüftknochen saß. Ich hatte mir immer eingeredet, dass die fünf Kilo, die ich im Laufe der Jahre zugenommen hatte, sich ganz unauffällig am ganzen Körper verteilt hatten, aber in Wirklichkeit schienen sie doch vor allem an der Taille gesessen zu haben. Wie dem auch sei, jetzt waren sie weg. Ebenso übrigens die Lachfältchen, die sich im Jahr 2011 auch dann strahlenförmig um meine Augen angeordnet hatten, wenn ich gar nicht lachte. Ich sollte mir auf jeden Fall vornehmen, weniger oft zu lachen, und meine Sonnenbrille nicht ständig zu vergessen. Andererseits: Mathias hatte mich trotz der Lachfältchen geküsst. Und trotz der fünf zusätzlichen Taillenkilos. Ein Grund mehr, sich in ihn zu verlieben und nie wieder gehen zu lassen, wenn ich ihn denn erst aufgespürt hatte.
Ich musste kurz daran denken, wie ich Felix auf seinem Rennrad hatte davonfahren lassen, und versuchte vergeblich, den Stich zu ignorieren, den mir diese Erinnerung versetzte. Ich vermisste ihn immer noch, Felix und seine verstrubbelten Augenbrauen und seinen Gesichtsausdruck, wenn er beteuerte, ich würde auch mit einem Badehandtuch um den Kopf großartig aussehen. Aber meine Entscheidung bereute ich trotzdem nicht. Denn Mathias’ Kuss war nach meiner Rechnung gerade mal vier Tage her. Eine Zeitspanne, die meine Schmetterlinge im Bauch locker überlebt hatten. Und deshalb musste ich auch so schnell wie möglich ins Büro, um Mathias zu googeln. Eigentlich war ich noch bis Ende der Woche krankgeschrieben, aber ich konnte unmöglich länger warten. Die Blutgräfin hatte noch nie etwas von Datenschutz am Arbeitsplatz gehört und zwang uns, immer das gleiche Kennwort zu verwenden ( Kennwort123 ), was ich früher verflucht hatte, jetzt aber ausnahmsweise für eine hervorragende Idee hielt. Abgesehen davon freute ich mich darauf, Marlene, Linda und Bengt wiederzusehen.
Ich war ein bisschen aufgeregt, als ich am Rudolfplatz aus der Straßenbahn stieg. Noch vor dem Eingang ins Büro traf ich Marlene. Sie schenkte mir ihr fröhliches Grübchen-Guten-Morgen-Lächeln, und für einen Moment war mir sehr danach, ihr stürmisch um den Hals zu fallen und hier und jetzt meinen Komatraum mit ihr zu teilen. Aber mal abgesehen von der Tatsache, dass ich gar nicht wusste, wo ich genau hätte anfangen sollen (bei Gereons Party im Jahr 2011? Bei Mathias’ Kuss? Oder lieber gleich bei der U-Bahn, die mich überfahren hatte?), waren Marlene und ich zu diesem Zeitpunkt nur zwei Kolleginnen, die gut miteinander klarkamen. Und auch wenn sie die großzügigste Person war, die ich kannte: noch vor dem ersten Bürokaffee die Zeitreiseprobleme einer Verrückten im lilafarbenen Cordrock zu analysieren, das war selbst für Marlene zu viel.
»Ich dachte, du
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